Prolog: An der Grenze

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September 2023. Keine zehn Minuten Fahrt von der syrischen Grenze entfernt, in der Bekaa-Hochebene im Libanon, sitzen rund zwei Dutzend syrische Aktivist:innen in einem kühlen Konferenzraum. Über eine Leinwand ist der Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni zugeschaltet. Während dreier Tage erklärt er den Teilnehmenden das Verfassungsrecht, diskutiert mit ihnen, welches politische System für Syrien am besten geeignet wäre. Es geht ums grosse Ganze: die politische Zukunft des Landes.

Dabei sieht die Gegenwart ausserhalb des Konferenzraums, in den Dutzenden Geflüchtetenlagern entlang der syrischen Grenze, so düster aus wie noch nie. Im Mai 2023 fing die libanesische Armee damit an, Razzien durchzuführen. Sie verhaftete Hunderte Syrer:innen im ganzen Land und schob sie nach Syrien ab. Manche wurden dort direkt in die Armee eingezogen. Anderen gelang die Flucht zurück in den Libanon. Einige verschwanden. Seit diesem Mai ist den Syrer:innen hier klar, dass sie selbst das letzte Stück Schutz verloren haben: jenen vor einer gewaltvollen Rückführung in das Land, aus dem sie einst geflohen waren.

Fast zeitgleich, am 19. Mai 2023, stieg der syrische Präsident Baschar al-Assad im saudi-arabischen Dschidda aus dem Flugzeug. Unten an der Treppe lächelte ihm Sultan Bin Abdulasis, der Vizegouverneur der Provinz Mekka, entgegen. Assad war gekommen, um am jährlichen Gipfel der Arabischen Liga teilzunehmen – zum ersten Mal, seit Syrien im November 2011 wegen der Gewalt des Regimes gegen friedlich Demonstrierende vom Gremium ausgeschlossen worden war.

Die gewaltvollen Abschiebungen aus dem Libanon und die Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga geschahen unabhängig voneinander. Doch die Rehabilitation des syrischen Präsidenten verstärkte die Angst vieler Syrer:innen, dass der Druck auf sie, in ihr Land zurückzukehren, noch weiter steigen würde. Nur: Welche Situation würden sie dort vorfinden? Denn auch wenn die Fronten in Syrien seit Jahren eingefroren und die Kämpfe zurückgegangen sind – der politische Konflikt, der die Menschen einst in die Flucht trieb, ist bis heute ungelöst.

Beides, die diplomatische Annäherung mancher Staaten an das syrische Regime und der steigende Druck auf die Geflüchteten, sind Ausdruck davon, wie fundamental sich der Blick auf den Krieg in Syrien, ja auf die politischen Entwicklungen in der ganzen Region gewandelt hat. Zwölf Jahre ist es her, dass die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers in einer tunesischen Kleinstadt Massenproteste auslöste, die innert weniger Monate auf fast alle arabischen Länder übergriffen. Der tunesische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali gab damals dem Druck der Strasse nach wenigen Wochen nach und trat nach Jahrzehnten an der Macht zurück. Am 14. Januar 2011 brachte ihn ein Flugzeug ins Exil – ausgerechnet ins saudische Dschidda, wo der syrische Präsident Assad über ein Jahrzehnt später rehabilitiert werden sollte.

Die Flucht des tunesischen Präsidenten weckte Hoffnungen, dass ein politischer Wandel in den arabischen Ländern nach Jahrzehnten der Diktatur möglich ist. In Syrien hingegen ging das Regime von Anfang an mit äusserster Brutalität gegen die Demonstrierenden vor. Die Folge war ein Krieg, der Hunderttausende Todesopfer forderte und Millionen von Menschen zur Flucht zwang: Die Hälfte der Bevölkerung floh innerhalb Syriens, ein Viertel verliess das Land.

Im Zentrum dieser Reportage stehen Syrer:innen, die der Krieg in die Flucht getrieben hat. Denn mit dem Nachlassen der Kämpfe in Syrien sind auch die Geschichten der Syrer:innen dem Bewusstsein vieler entschwunden. Zudem vermittelt die Annäherung mancher Staaten ans Assad-Regime den falschen Eindruck, dass sich das syrische Dilemma über die Menschen hinweg lösen lasse. Dieser Wunschvorstellung steht die Lebensrealität der syrischen Gesellschaft gegenüber, die bis heute von den Folgen des Krieges, von Gewalt, Vertreibung und Exil geprägt ist.

Diese Geschichte ist eine Annäherung an die gewaltigen Umwälzungen, die die syrische Gesellschaft in den letzten zwölf Jahren durchgemacht hat.

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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