Von oben herab: Live is life

Nr. 21 –

Stefan Gärtner über die Hinrichtung eines Dorfs

In den deutschen Fernsehnachrichten am Sonntag der junge Iraner, dem die sogenannten Revolutionsgarden mit Schrotmunition das rechte Auge zerschossen haben in der Annahme, ihr Gott müsse das befürworten und sich nicht im Gegenteil im Minutentakt erbrechen angesichts der Schweinereien, die die Widerlichsten der Welt in Seinem Namen unternehmen. Da das Regime mit der Barmherzigkeit, wie sie die Religion verlangt, die Versorgung seiner Opfer in Krankenhäusern verboten hatte, lag der junge Mann, sich vor Schmerz und Verzweiflung windend, in einer Privatwohnung auf dem Boden, und ich war so frei, mich zu fragen, wer das warum mit dem Handy gefilmt hatte.

Man kann das gern für ein zeitgeschichtliches Dokument halten, und als das vietnamesische Mädchen Kim Phúc nackt und verbrannt vor dem Napalm floh, hat der Fotograf Nick Út ja ebenfalls auf den Auslöser gedrückt. Der Unterschied ist vielleicht, dass der Kriegsreporter Út für derlei in Vietnam war; das iranische Opfer hat dagegen eher kein Profi gefilmt, sondern jemand, der es gewöhnt ist, dass Realität etwas sei, was erst medial zu sich selbst findet. Unbeschadet des Eindrucks, den die schlimme Szene hinterlässt, bin ich mir allerdings sicher, dass ich nie auf die Idee käme, so was zu filmen, denn während die fotografische Aufnahme eine diskrete Sekunde benötigt, dauert der Clip zu lange, als dass, wer ihn aufnimmt, nicht mindestens das ambivalente Gefühl haben müsste, zugleich Zeuge und Arschloch zu sein. Für mich, der ichs sah, galt dasselbe.

In allergrösster Unschuld lässt sich hingegen «die Situation in Brienz im Livestream» goutieren, nämlich (und nicht nur) auf blick.ch, wo unter der Frage «Wann kommt der Bergsturz?» aus Graubünden berichtet wird, allwo ein Bergdorf wegen eines erwarteten Felsabgangs geräumt worden ist. «Hier kannst du live verfolgen, wie sich die Situation am Berg entwickelt», duzt mich der «Blick», und das darf er auch, denn das Sie würde eine Distanz markieren, die in unserer übergeschnappten Bildergesellschaft, in der Adornos Wort von der «totalen Produktion» sich zumal auf Instagram beweist, nur mehr hinderlich wäre. Mit ein bisschen Pathos könnte man sagen, hier sei ein Dorf zum Tode verurteilt, und während jetzt Menschen mit ihren Habseligkeiten vermutlich in einer Turnhalle sitzen und hoffen, es möge wie auch immer Gnade walten, haben Arschlöcher eine Kamera vor den Berg gestellt, um es anderen Arschlöchern zu ermöglichen, bei der Hinrichtung zuzusehen. Zusehen könnten sie freilich auch, nachdem es passiert ist; der Reiz am Livestream aus Brienz liegt im zynischen Kitzel, mit ein bisschen Glück live dabei zu sein, wenn auch in sicherer Entfernung.

Nun wird es ja Sommer, und wenn die Wälder brennen, wird in den Nachrichten wieder zu sehen sein, wie die Leut, sofern das Feuer den Gartenzaun noch nicht erreicht hat, neben ihren Häusern stehen und mit dem Telefon die Rauchsäulen filmen. Das ist zwar dumm, aber nicht nur, denn dass der Mensch in der bildlichen Abstraktion das banne, was über seine konkreten Kräfte geht, ist nicht nur eine Metapher. Die Nachrichten selbst werden teils aus Handyfilmen bestehen, die das adeln, was einmal die «Leserreporterin» war, als es noch darum ging, Prominente beim Wildpinkeln zu überraschen, und wo die Produktion endet und der Konsum beginnt, lässt sich da wirklich nicht mehr sagen.

Es ist kritisches Kleingeld, festzustellen, dass das Nachrichtengewerbe Gewerbe und also ein Teil der Unterhaltungsindustrie ist, und die Ironie wäre die, dass Sie, verehrter Leser, verehrte Leserin, sich ja hoffentlich ebenfalls gut unterhalten fühlen, wenn wir alle zwei Wochen gemeinsam darauf warten, dass uns, beim Teutates, der Himmel auf den Kopf fällt. Auch wenn meine Übertragungen nach zwei Minuten vorbei sind.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.