Von oben herab: Aus der Bildungsrepublik

Nr. 33 –

Stefan Gärtner hat Fragen zum Wissen

Die Gemeinde Schattdorf, Kanton Uri, hat mit einem Bild des Dachauer KZ-Schriftzugs «Arbeit macht frei» auf ihre Feiertagsöffnungszeiten hingewiesen: Der verantwortlichen Mitarbeiterin, lesen wir, sei der historische Zusammenhang «nicht bewusst» gewesen. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) hat daraufhin «massivste historische und gesellschaftspolitische Unwissenheit» beklagt und eine stärkere Förderung von «Bildung und Aufklärung in Schulen zur Naziherrschaft und zum Holocaust» gefordert. Die Gemeinde Schattdorf hat sich entschuldigt.

Nichts lässt sich ja so gut und preiswert fordern wie «Bildung», und natürlich hat der SIG recht: Was zu wissen ist, muss gewusst werden. Aber was wissen die Leute denn? Eine Mitschülerin von mir hat mal auf die Frage «Woher kommen die Schwedenmöbel?» geantwortet: «Aus Finnland», und während das in unseren durchglobalisierten Zeiten längst sein kann, schätzte ein Passant im Fernsehen (mein Bruder schwört, dass die Antwort so gefallen ist) die Bevölkerungszahl Deutschlands mal auf «eine Milliarde», und das ist beim besten Willen kein Beweis für die «Bildungsrepublik», die umso sturer gefordert wird, je unwahrscheinlicher ihr Eintreffen ist. Bei deutschen Wahlen gibt es ja meist zwei Stimmen, eine fürs Direktmandat und eine (entscheidende) für die Zusammensetzung des Parlaments, und wenn das überhaupt eine Mehrheit weiss, dann vermutlich eine knappe. Apropos: In einer Umfrage von «20 Minuten» hatten drei von sechs Angesprochenen einen Schimmer, was es mit «Arbeit macht frei» auf sich hat, immerhin.

Aufklärung, lautet Kants Gassenhauer, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, und der Kritische Theoretiker darf hier gleich einhaken und sagen, ja, aber sie ist ja unverschuldet, nicht wahr, weil von den Apparaten so gewollt. Wären alle so gebildet, wie das die Rede von der Bildungsrepublik meinen müsste, um kein Geschwätz zu sein, würden sie vielleicht Fragen stellen, die nicht ins Konzept passen, nach Besitz, Macht und wie das zusammenhängt und ob ein Geländeporsche wirklich mehr als eine Geschmacklosigkeit ist, und wenn der Karosseriebaumeister aus der DDR, bei dem ich zu meinen Oldtimerzeiten Stammgast war, mir ungefragt mitteilte, das wisse ich doch sicher, dass die Schulbildung in der DDR besser gewesen sei, hatte er insofern recht, als die Bildungsrepublik mit dem Wissen beginnen müsste, worauf die Gesellschaft, in der man lebt, beruht. Die westliche Antwort, die ungefähr «Rechtsstaat» und «Freiheit» lautet, unterschlägt nämlich, was im Osten Grundwissen war: dass Herrschaft unmittelbar mit der Verfügung über die Produktionsmittel zu tun hat. Aber weder kann man alles wissen, noch soll sich eins für alles interessieren, etwa dafür, wie aussichtslos das mit der grünen Marktwirtschaft ist (siehe WOZ Nr. 32/2022 ), und die Wahrheit ist, dass die Leute sich nicht mal für die interessieren, wenn sie in ihren parkierten Autos sitzen und bei laufendem Motor ihr Telefon bedienen, Benzinpreis hin, Klimakatastrophe her. Ein Volkshobby, und dass im Handy dann «Ich bin Sophie Scholl» geguckt wird, ist weder anzunehmen noch überhaupt wünschenswert: «Folge Sophie Scholl auf Instagram: Erwachsenwerden mitten im Krieg. Zwischen erster grosser Liebe, Freundschaft und den Zwängen der Diktatur. Eine junge Frau, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpft und dafür alles riskiert», und dies alles unter einer Leitfrage, die dem Ersten Deutschen Fernsehen, in dessen Mediathek das alles stattfindet, als grundvernünftige erschien: «Was wäre gewesen, wenn Sophie Scholl Instagram gehabt hätte?»

Was wäre, wenn die Leute nicht nur wüssten, was ein KZ war, sondern auch, was Kulturindustrie ist, soll man sich da gar nicht erst ausmalen. Es wäre geradezu ein Bildungsschock.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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