Unruhen in Pakistan: Wie Machiavelli aus der Asche

Nr. 20 –

Der pakistanische Expremier Imran Khan inszeniert sich als Ultranationalist gegen das Establishment – und hat «die Strasse» auf seiner Seite.

Imran Khan am Tag seiner Freilassung, Islamabad, 12. Mai
Populärer Populist mit Sympathien für die Taliban: Imran Khan am Tag seiner Freilassung, Islamabad, 12. Mai. Foto: Muhammad Reza, Getty

Pakistans Expremierminister Imran Khan hat eine turbulente Woche hinter sich: Erst war er wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet worden. Dann gingen Millionen seiner Anhänger:innen – nicht nur in Pakistan, sondern auch im Ausland – auf die Strasse und forderten seine Freilassung. Seitdem kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Am vergangenen Freitag wurde Khan schliesslich auf Kaution entlassen, da die Richter des Obersten Gerichts seine Gefangennahme als «illegal» bezeichnet hatten.

Das klingt nicht weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass an der Verhaftung rund hundert schwer bewaffnete Paramilitärs beteiligt gewesen waren. «Es ist eine persönliche Sache. Es hat nichts mit nationalen Interessen zu tun», sagte Khan dazu in seinem jüngsten Interview mit dem britischen «Guardian».

Von August 2018 bis im April 2022 war Imran Khan Premierminister der Atommacht Pakistan. Der einstige Cricketstar inszenierte sich als lässiger Revolutionär, Mann des Volkes und machiavellischer Politiker zugleich. Er war der Unbestechliche, der aussenpolitisch die Nähe Chinas und Russlands suchte. Während Khan gegen die korrupten Eliten wetterte, die er vermeintlich entthront hatte, und antiwestliche Rhetorik pflegte, sah er sich bereits in einer Reihe mit anderen populistischen Ultranationalisten, die ihr Land mit ihrer Politik spalteten, Männern wie Indiens Narendra Modi oder dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan.

Unterschätzte Machtkämpfe

Wahrscheinlich war es vor allem Letzterer, dem Khan nacheiferte: per Demokratie ins Amt, um von dort aus alle anderen zu entmachten. Konfliktgewillt, nationalistisch und manchmal – wenn es sein musste – auch islamistisch. Nicht, um die konservativen Massen zu besänftigen, sondern weil militant-islamistische Akteure und anderweitige Fanatiker schon längst zum Teil des politischen Alltags in Pakistan geworden sind. An seinem Image als frommer Muslim begann Khan bereits vor einigen Jahren zu arbeiten. Aus dem einstigen Oxford-Playboy, der früher mit einer britischen Adligen verheiratet war, wurde ein religiös wirkender Mann mit verschleierter Frau.

Doch Khan unterschätzte während seines Aufstiegs die Machtkämpfe innerhalb des pakistanischen Establishments, bestehend aus Militär, politischer Klasse und dem berühmt-berüchtigten Geheimdienst ISI. Im April 2022 verlor Khan nach einem Misstrauensvotum sein Amt. Der damalige Oppositionsführer, Shehbaz Sharif, Bruder des ehemaligen Premiers Nawaz Sharif, wurde sein Nachfolger.

Für all das Chaos macht Khan ausgerechnet jene verantwortlich, die ihn jahrelang unterstützt hatten und ohne deren Hilfe er es kaum zum Premierminister geschafft hätte: die mächtigen Militärs. Laut Khan steckten diese nicht nur hinter seiner Verhaftung, sondern hätten auch mindestens zweimal versucht, ihn zu töten. «Das Militär steht über dem Gesetz. Der ISI steht über dem Gesetz», so Khan.

Dass der Expremier seine Hände stets in Unschuld wäscht und sich als Opfer stilisiert, ist nichts Neues. Hinzu kommt sein Hang zu Verschwörungsnarrativen, die er gerne bedient, sobald er seine Macht und seinen Status gefährdet sieht. Nach dem Misstrauensvotum behauptete er etwa, dass die Opposition mit den USA gemeinsame Sache mache. In einem Interview mit der «New York Times» und anderen internationalen Medien meinte Khan damals, Washington würde einen «regime change» in Pakistan anstreben und habe deshalb eine Verschwörung gegen ihn angezettelt. Der Westen wolle kein unabhängiges Pakistan.

Spitzname: Taliban Khan

In Pakistan gibt es gegenwärtig keinen Zweiten, der wie Khan die Massen mobilisieren kann. Nach seiner Verhaftung kam es im gesamten Land zu Protesten sowie teils heftigen Ausschreitungen und Plünderungen. In den sozialen Medien machten Videos die Runde, die ältere Frauen oder Kinder zeigten, die sich lautstark für Khan einsetzten. Zahlreiche Demonstrationen fanden auch in Ländern mit einer nennenswerten pakistanischen Diaspora statt, etwa in Grossbritannien, Australien, den USA oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten. «Wir lieben Imran Khan und stehen seit Jahren an seiner Seite», sagt etwa Zobayda Begum, 65-jährige Hausfrau aus der Stadt Peschawar. Für sie ist klar: Khan stehe für den Kampf gegen das Establishment. Ausserdem sei er ein Patriot und ein guter Muslim.

Dies hat auch damit zu tun, dass Khan bereits Jahre vor seiner Amtszeit die Korruption im Land angeprangert hatte. Er organisierte Protestmärsche gegen den Antiterrorkrieg der Armee und die Armut, etwa in den paschtunischen Stammesgebieten entlang der Grenze zu Afghanistan. Damals wurde die Region auch zum Ziel von CIA-Drohnenangriffen, die zahlreiche Zivilist:innen das Leben kosteten. Die CIA-Operationen wurden von Islamabad geduldet und wahrscheinlich mit dem ISI abgestimmt. Khan gehörte zu den wenigen Politikern, die dagegen ihre Stimme erhoben. Doch zeitgleich wurde ihm auch Nähe zu militant-islamistischen Gruppierungen vorgeworfen. So rechtfertigte er etwa den Krieg der Taliban in Afghanistan oder bezeichnete – während seiner Amtszeit als Premierminister – Osama bin Laden im pakistanischen Parlament als «Märtyrer». Kritiker:innen bezeichneten ihn deshalb auch gerne als «Taliban Khan».

Der mysteriöseste Geheimdienst

«Imran Khan hat seinen Mythos und den damit verbundenen Erfolg ausschliesslich dem Establishment, allen voran dem Militär, zu verdanken. Als diesem später auffiel, dass er sich gegen ihre Interessen richtete, wurde er fallen gelassen und entmachtet», meint Abed Khan Wazir, ein politischer Analyst und Publizist aus Peschawar. Wazir sieht Khans Politik von Grund auf kritisch. Aus seiner Einmannpartei Pakistan Tehreek-e-Insaaf (PTI) sei erst durch die erfolgreiche Intervention des Establishments eine führende politische Kraft geworden. Als Grund hierfür sieht er die Machtspiele verschiedener innerpakistanischer Akteure, die das Geschehen «seit der Entstehung des Staates» lenken würden. Das klingt konspirativ.

Dass in Pakistan tatsächlich eine Art «Staat im Staat» existiert, wird von vielen Kennerinnen und Beobachtern der Region allerdings kaum infrage gestellt. Ein Grund hierfür ist gewiss auch der Umstand, dass der ISI zu den mysteriösesten Geheimdiensten der Welt gehört und sich bis heute in viele Konflikte einmischt – etwa in den Nachbarländern Afghanistan und Indien. Eine nüchterne Analyse des tatsächlichen Geschehens ist umso schwieriger. Nach seiner Wahl im Jahr 2018 verkündete Khan, Pakistan nach den Idealen des Staatsgründers Muhammad Ali Jinnah, von denen man in den letzten Jahren abgerückt sei, gestalten zu wollen.

«Daraus ist nichts geworden. Korruption und Willkür stehen weiterhin auf der Tagesordnung», meint Politanalyst Wazir, der aus der Provinz Khyber Pakhtunkhwa stammt, wo die meisten Paschtun:innen des Landes leben. Auch Khan ist Paschtune und hat sich hier gerne als solcher präsentiert, etwa mit Pakolmütze und traditioneller Kleidung. Seine PTI war bei den letzten Wahlen die führende Partei in der Provinz, doch verändert habe sich nicht viel, sagt Wazir. Stattdessen sei Khan selber Teil des Establishments geworden, das nun ihn und die im August anstehenden Wahlen fürchte.

Eine Sicht aus Indien

Für Shekhar Gupta, Chefredaktor der indischen Onlinezeitung «The Print», steht Khans Sieg – sollte es tatsächlich zu Wahlen kommen – bereits fest. Khan habe «die Strasse» auf seiner Seite, schrieb Gupta in seiner jüngsten Kolumne. Einerseits gehöre es zu einer Demokratie, dass der populärste Kandidat auch gewinne, andererseits berge ein Sieg Khans angesichts der Schwäche der pakistanischen Institutionen grosse Gefahren. Khan sei zu populistisch, aggressiv, reaktionär, islamistisch und auch antiindisch.

Man könnte ergänzen, dass es Männer wie Indiens rechtsextremer Premierminister Narendra Modi und dessen hindufaschistische Schlägertrupps sind, die zur Radikalisierung der ganzen Region beigetragen haben – und so auch ihren Teil zur Erfolgsgeschichte Khans beisteuerten.