Verbotene Kinder: Weggesperrt im «Finsterland»

Nr. 6 –

Ein Dokumentarfilm, ein Hörspiel und ein Theater erzählen von einem verbrecherischen Kapitel Schweizer Geschichte: Die illegalisierten Kinder der sogenannten Gastarbeiter:innen mussten entweder versteckt oder zurückgelassen werden. Mit traumatischen Folgen.

Szene aus «Versteckt» am Luzerner Theater
Wenn der Nachbar seine Augen und Ohren überall hat: Zwar spielt Polizist Herbster (Rüdiger Hauffe) ab und an mit Lucia (Wiebke Kayser), doch am Ende gewinnt der Gesetzeshüter in ihm die Oberhand. Szene aus «Versteckt» am Luzerner Theater. Foto: Ingo Hoehn

«Das ist ein Land mit vielen Gesetzen», sagt der Vater und blickt seine Tochter ernst an. «Und das wichtigste Gesetz ist: Es muss immer still sein.» – «Darf ich atmen?», fragt das Mädchen mit grossen Augen zurück.

Die zehnjährige Lucia ist gerade in der Schweiz angekommen. Bis jetzt lebte sie bei ihrer Grossmutter in Süditalien. Da diese verstorben ist, haben sie die Eltern zu sich in ihre Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Schweiz geholt. Vor der Grenze musste sie in den Kofferraum des Autos steigen, und jetzt, in der Wohnung, muss sie still sein. Immer. Den ganzen Tag. Während ihre Eltern arbeiten, wartet sie in der mit Fensterläden verdunkelten Wohnung auf den Abend und die Rückkehr der Eltern. Ihre Puppe Betty und der Teddy sind nicht nur ihre einzigen Spielgefährt:innen und Gesprächspartner:innen, sondern sie erweisen sich auch sonst als ganz praktisch: Um beim Gehen Lärm zu vermeiden, bindet sich Lucia die beiden an die Fusssohlen.

Neun Monate schuften

«Versteckt. Lucia im Finsterland» – so der Titel des Theaterstücks des Berner Autor:innenpaars Ariane von Graffenried und Martin Bieri, das unter der Regie von Max Merker im Luzerner Theater aufgeführt wird. Die Bühne ist leer. Nur eine Wand voller alter Koffer trennt den Raum in eine vordere und eine hintere Hälfte. Die Koffer sind an Stangen angebracht und können gedreht und gekippt werden wie Türen und Fenster – was geschickt ins Spiel integriert wird. Auf dieser schlichten Bühne entfaltet sich nun eine tragische Geschichte, wie sie sich in der Schweiz tausendfach abgespielt hat. «Dies ist meine Geschichte», sagt Lucia, grossartig gespielt von Wiebke Kayser, am Anfang des Stücks, trotzig ins Publikum blickend. Und sie erzählt eine «Geschichte von einem finsteren Land mit einem kalten Herz».

«Versteckt» berichtet von einem verbrecherischen Stück Schweizer Geschichte. Sie handelt von einem Land, das für den eigenen Wohlstand nicht nur ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter schamlos ausbeutet, sondern sie und ihre Familien darüber hinaus systematisch getrennt und für immer traumatisiert hat. In den 1930er Jahren wurde das Saisonnierstatut eingeführt. Dieses erlaubte es den ausländischen Arbeitern nur, neun Monate am Stück in der Schweiz zu bleiben. Ein Stellen- oder Ortswechsel war ihnen während dieser Zeit untersagt, Vorgesetzte konnten innert 24 Stunden die Kündigung aussprechen. Die Ehefrauen durften einzig dann in der Schweiz wohnen, wenn sie auch eine Arbeit hatten. Sogar wenn beide Elternteile in der Schweiz arbeiteten, war es ihnen verboten, die Kinder mitzubringen.

Italienische Familie 1970 im Zürcher Hauptbahnhof
Viele Migrant:innen mussten in der Schweiz ihre Kinder vor dem Staat verstecken: Italienische Familie 1970 im Zürcher Hauptbahnhof. Foto: Keystone

Dieses menschenverachtende Gesetz soll­te die auf wirtschaftliche Bedürfnisse abgestimmte Flexibilität des Arbeitsmarkts sichern – und gleichzeitig die von rechts beschworene «Überfremdung» bekämpfen. Viele Paare brachten ihre Kinder deshalb heimlich in die Schweiz, wo sie über Jahre versteckt und illegalisiert lebten. Laut einer neuen Studie des Migrationshistorikers Toni Ricciardi gab es in der Schweiz allein von 1949 bis 1975 fast 50 000 versteckte Kinder. Rechne man all jene Kinder dazu, die bei Verwandten im Herkunftsland geblieben seien, müsse man insgesamt von einer halben Million betroffenen Kindern ausgehen, sagte Ricciardi in der «NZZ am Sonntag». Erst 2002 wurde mit der Einführung der Personenfreizügigkeit das Saisonnierstatus für Menschen aus der EU abgeschafft.

Die jungen Männer, die vor allem seit den sechziger Jahren aus Italien, Spanien und Portugal kamen, um die Häuser, Strassen und Tunnels dieses Landes zu bauen, wurden in prekären Unterkünften untergebracht und auf schlecht abgesicherten Baustellen eingesetzt. So ergeht es auch Lucias Vater Ugo (Martin Carnevali) im Stück «Versteckt». Einer seiner Kollegen stirbt bei der Arbeit, weil das marode Gerüst einstürzt. Dafür Verantwortung übernehmen will niemand. Erschüttert erzählt Ugo zu Hause davon. Während er resigniert, wird seine Frau Zora (Carina Thurner), die in einer Strumpffabrik arbeitet, immer kämpferischer. Die kleine Lucia verliert in der dunklen, einsamen Wohnung ihre Sprache und beginnt, in abgehackten Sätzen zu reden.

Wunden, die niemals heilen

«Es gab Kinder, die nicht mehr reden konnten. Denn die Sprache wird zur Gefahr, wenn man ihnen sagt: Sprich nicht.» Dies sagt die schweizerisch-italienische Psychotherapeutin Marina Frigerio im neuen Dokumentarfilm «Im Land der verbotenen Kinder». Frigerio, Spezialistin für Kinder- und Jugendpsychologie, hat 2014 im Buch «Verbotene Kinder. Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität» Betroffenen eine Stimme gegeben. Nun tritt sie im Film von Beat Bieri und Jörg Huwyler als Expertin auf.

«Versteckt» verdichtet die vielen von den Autor:innen recherchierten Geschichten, kombiniert mit Texten aus den Romanen von Francesco Micieli, zu einer exemplarischen Familiengeschichte. Das Theaterpublikum kann die dunkle Enge, die Angst des Kindes und seine eintönigen Tage fast physisch miterleben, der politische Kontext ist in den starken Dialogen und Monologen präsent. Im Dokumentarfilm wiederum kommen viele unterschiedliche Betroffene zu Wort. Mit seinen vielen Archivaufnahmen liefert der Film die Bilder zur historisch-politischen Dimension des Komplexes.

Männer mit Koffern
Ein Kind hält ein Schild: Voglio restare con il mio Papa! (Ich möchte bei meinem Vater bleiben!)
Personen schauen aus einem Zugfenster aufs Perron am Bahnhof Zürich
eine Frau und ein Mann schauen aus einem Zugfenster
«Ich will bei meinem Papa bleiben»: Szenen aus dem Dokumentarfilm «Im Land der verbotenen Kinder», der viele Betroffene zu Wort kommen lässt. Stills: Lindenfilm

Desolate Unterkünfte ohne Duschen und Warmwasser, aber auch politische Aktionen, Demonstrationen, Proteste, Diskussionen sowie Strassenumfragen aus den siebziger Jahren erinnern an die aufgeheizte politische Stimmung und die Ressentiments, die damals gegenüber den Saisonniers herrschten. Und sie veranschaulichen, wie der rassistische Diskurs, der von rechter Seite bewirtschaftet wird, derselbe geblieben ist. Er richtet sich heute einfach gegen andere Menschengruppen. Und ausgerechnet jene Partei, die Familien als unantastbares Heiligtum zelebriert – solange es sich um Schweizer Familien handelt –, trieb und treibt noch immer die Trennung ausländischer Familien voran.

Wie schmerzhaft solche erzwungenen Familientrennungen sind und dass diese Wunden nie geheilt werden können, vermittelt eindrücklich das Hörspiel «Welcher Art die Wärme ist» der Autorin Melinda Nadj Abonji, der Historikerin Paola De Martin und des Historikers Carmine Andreotti. Die drei sind selbst Betroffene dieser menschenverachtenden Politik, Nadj Abonji und De Martin leiten zudem den 2021 von ihnen gegründeten Verein Tesoro (vgl. «Wirtschaftspolitik gegen die Menschenrechte»).

Das Hörspiel ist ein eindringlicher, poetischer Text, bestehend aus biografischen Erlebnissen – gelesen von Schauspieler:innen –, Zitaten aus Akteneinträgen sowie Reflexionen über typisch schweizerische Wortschöpfungen. Zum Beispiel der Begriff «Gastrecht»: «Gastrecht des Gastarbeiters: Er darf nach einer bestimmten Zeit das Land wieder verlassen.» Oder «Familiennachzug»: «Einheimische Familien geniessen den Familienvorzug.»

Über die Worte erklingen, vorwärtstreibend und leicht nervös, Schlagzeug und ein Bass, komponiert von Martin Schütz. Dieser Wort-Klang-Teppich erfasst eine erschütternde zusätzliche Dimension zu Film und Theater: Er macht deutlich, dass bis heute die Worte fehlen für das, was den Menschen angetan wurde. «Diese Sache»: So nennt die Mutter einer Erzählerin denn auch das Unsagbare, diese «Gewalt unserer Trennung». Die junge Mutter musste das in der Schweiz geborene Baby nach Italien bringen, weil die Tochter illegal in der Schweiz war. Allein reiste sie im Zug wieder zurück in die Schweiz, um dort zu arbeiten und dem Wirtschaftswachstum zu dienen – es muss eine Höllenreise gewesen sein. Ihr Schmerz, er ging nie vorbei: «Es ist das Erste, woran ich denke, wenn ich aufwache, und das Letzte, woran ich denke, wenn ich einschlafe.» Es sei ständig da, doch darüber reden könne sie nicht.

Konsequent kaltherzig

Auch im Film «Im Land der verbotenen Kinder» kommt mit Isabel da Silva die Mutter eines solchen «verbotenen Kindes» zu Wort. Als sie nach Jahren endlich den Status erhielt, um legal mit ihrer Tochter in der Schweiz zu leben, beschieden ihr die St. Moritzer Behörden, das gehe nicht, weil sie keine eigene Wohnung habe; da Silva lebte im Hotel, in dem sie arbeitete. Nachdem sie sich eine eigene Wohnung gemietet hatte, rechnete man ihr vor, dass sie zu wenig verdiene, um ihre Tochter unterhalten zu können. Die Schweiz zeigt sich als konsequent kaltherziges Land: Anstatt den Menschen einen anständigen Lohn zu zahlen, damit sie mit ihren Kindern hier leben konnten, wurde der magere Lohn als Grund vorgeschoben, um die Familien zu trennen.

In Theater, Film und Hörspiel wird gleichermassen klar, wie dieses zwar legale, aber menschlich doch so verwerfliche System von vielen Beteiligten mitgetragen wurde: von den Arbeitgeber:innen, die davon profitierten; von den Behörden, die die Gesetze rigide anwendeten und zum Teil sogar Absprachen mit den Chef:innen machten; von Menschen, die ihre Nachbar:innen verrieten. Und wie die Saisonniersfamilien auf den guten Willen einzelner Schwei­­­zer:innen angewiesen waren – den es tatsächlich auch gab –, was sie in eine völlige Abhängigkeit von Einzelpersonen brachte.

Auch bei Lucia in «Versteckt» spielt der Nachbar eine entscheidende Rolle: Der übereifrige Polizist Herr Herbster (brillant: Rüdiger Hauffe), ein unauffälliger Paragrafenreiter mit grosser Brille und grauen Kleidern, der auch nach Feierabend von zu Hause aus noch ständig wichtige geschäftliche Telefonate führt, kommt regelmässig in die Wohnung, um mit dem Mädchen zu spielen. Doch auch bei ihm gilt schliesslich: «Gesetze müssen angewendet werden, das sind wir ihnen schuldig.»

Das Theater «Versteckt» ist im Luzerner Theater zu sehen, der Dokumentarfilm «Im Land der verbotenen Kinder» läuft in verschiedenen Kinos, und das Hörspiel «Welcher Art die Wärme ist» ist auf br.de und srf.ch zu hören.