Geflüchtet (3): Das grösste Privileg

Nr. 20 –

Hi. Diese Woche habe ich von der Schweiz den S-Status erhalten – für ein Jahr. Ich weiss, dass die Schweiz ihn zum ersten Mal an schutzbedürftige Menschen verschenkt. Und ich weiss, dass Geflüchtete aus anderen Ländern, in denen auch Krieg herrscht, diesen Status nicht bekommen. Dies liess mich über Privilegien nachdenken. Wo sind die Grenzen meiner Privilegien, und wie kann ich sie verstehen und nutzen?

Ich bin eine Frau und hatte das Privileg, die Ukraine verlassen zu können. Männer gehörten vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben nicht zum privilegierten Teil der Gesellschaft. Das Gesetz verbietet ukrainischen Männern zwischen achtzehn und sechzig Jahren die Ausreise. Frauen dagegen werden mit Kindern und kranken Grosseltern an die Grenze gebracht, um in einem fremden Land zu überleben – ohne Sprachkenntnisse, Bekanntschaften, Kulturverständnis. Für mich sind diese Frauen grössere Heldinnen als die Männer an vorderster Front. Doch die öffentliche Meinung ist, dass der Krieg Männer zu Helden macht und aus den Frauen Opfer, die Hilfe brauchen. Selbst die Tatsache, dass die ukrainische Armee zu dreissig Prozent aus Frauen besteht, ändert nichts an den männlichen Heldenrollen.

Ich persönlich bin keine Heldin, ich bin nur mit einem krebskranken Hund eingereist, für den ich in der Schweiz keine Medikamente kaufen kann. Es war mir nie bewusst gewesen, dass ich in meinem alten Leben in der Ukraine allein aufgrund meiner Geburt viele Rechte und Privilegien hatte: Ich brauchte keine Status, verstand die kulturellen Codes, erhielt gute medizinische Versorgung. Ich hatte einen Lohn, Zugang zu billigem und sehr gutem Essen, es gab ein tolles Klima, Berge und Meere und Medizin für meinen Hund.

Doch die Kehrseite ist, dass unser Nachbar Russland seit über 400 Jahren unsere Kultur systematisch zerstören will. Wir sind daran gewöhnt, uns zu verteidigen und unserem Nachbarn nicht zu trauen. Ich frage mich, wie meine Ukraine aussehen würde, wenn sie – wie die Schweiz – das Privileg gehabt hätte, keine zwei Weltkriege auf ihrem Territorium erlebt zu haben, keine Hungersnöte und keine Genozide. Vielleicht ist das Leben ohne Angst vor einem Krieg das grösste Privileg, das die Menschen eines Landes haben können.

Die Drehbuchautorin und Theatermacherin Natalia Blok (41) lebt in Basel. Übersetzt hat den Text die Dramaturgin Julia Gonchar. Die Serie «Geflüchtet» wird vom Verein ProWOZ finanziert.