Geflüchtet (2): Würde und Freiheit

Nr. 19 –

Ich habe die Ukraine im März verlassen, ich konnte mir aussuchen, wohin ich als Flüchtling gehe. Doch in der Schweiz wird schutzsuchenden Ukrainer:innen diese Wahlmöglichkeit nun genommen. Die Regierung entscheidet, in welchem Kanton sie unterkommen. Auch andere Staaten, die Schutz bieten, bestimmen, wo du wohnen wirst, was du in der Unterkunft zu essen bekommst, wie viel Geld pro Monat für dich genug ist und sogar, für wie viele Tage du ihr Land verlassen darfst. Die Welt hatte auch die Wahl, der Ukraine Waffen zu geben, um den Himmel zu «schliessen», oder jetzt Millionen von Geflüchteten aufzunehmen, die Zeugnis ablegen können von Tausenden von gefolterten und getöteten Ukrainer:innen.

Es ist unerträglich. Früher habe ich mich um mich selbst gekümmert. Habe selber entschieden, was ich esse und anziehe, wo und mit wem ich lebe, wo ich arbeiten will. Dieser Krieg bedeutet für mich weniger den Verlust von Materiellem, er bedeutet, dass ich Angst habe, Würde und Freiheit zu verlieren und die Entscheidungsmöglichkeit, zu leben, wo und wie ich es für richtig halte. Genau das versuchen die Russen uns zu nehmen, indem sie einen Krieg gegen uns führen.

Diese Woche machte ich eine weitere schreckliche Erfahrung von Hilflosigkeit. Cherson, wo mein 22-jähriger Sohn Matwiy lebt, wurde von den Russen komplett von Telefonnetz und Internet abgetrennt. Niemand konnte mir sagen, was in der besetzten Stadt vor sich geht. Ich wusste nicht, ob mein Kind lebt. Und ich befürchtete, dass es in Cherson eine Zwangsmobilisierung für die russische Armee geben könnte, weil die Russen nach der Eroberung sagten, dass sie die Stadt befreit hätten und dass sie jetzt zu Russland gehöre. Die Einwohner:innen konnten keine E-Mails schreiben. Sie wussten nicht, was es Neues gab, konnten keine Verwandten anrufen und beim Einkaufen keine Bankkarte benutzen. Was blieb mir anderes übrig, als die Beiträge von anderen Ukrainer:innen auf Facebook zu lesen, die sich wie ich gegenseitig fragten, ob jemand wisse, was in Cherson vor sich gehe? Als die Verbindung drei Tage später wiederhergestellt war, sagte Matwiy, er sei am Leben und habe all die Tage Bücher gelesen, von denen es so viele bei ihm zu Hause gebe.  

Die Drehbuchautorin und Theatermacherin Natalia Blok (41) lebt zurzeit in Basel. Übersetzt hat den Text die Autorin Julia Gonchar. Die Serie «Geflüchtet» wird vom Verein ProWOZ finanziert.