Sozialarbeit: Keine Zeit für Menschen

Nr. 51 –

Die Arbeitslast auf vielen Sozialämtern ist für die MitarbeiterInnen kaum mehr zu bewältigen. Das mindert auch die Erfolge der Ämter und schadet nicht nur den Betroffenen. Ein ehemaliger Sozialarbeiter erzählt.

Pro Stellenprozent mindestens ein Dossier betreuen – kein Wunder, ist man als Sozialarbeiterin in der Sozialhilfe bald ausgebrannt. Foto: Ursula Häne

Die Woche fing mal wieder gut an. Als Christoph Gosteli am Montag fünf Minuten zu spät ins Büro kam, warteten bereits zwei seiner KlientInnen am Schalter des Sozialamts Langenthal. Gosteli entschuldigte sich, um dann ins Büro zu gehen und den Computer hochzufahren. Auf seinem Schreibtisch lag bereits ein handbreiter Stapel Briefe, der Anrufbeantworter zeigte etliche Anrufe in Abwesenheit. In seinem Posteingang warteten Dutzende ungelesene E-Mails, die meisten stammten von MitarbeiterInnen mit dem sinngemässen Betreff: «Bitte Frau Müller zurückrufen, bitte bei Herrn Meier melden». «Es war wie dieses Spiel, bei dem du mit dem Hammer auf die Köpfe schlagen musst, die aus Löchern herauskommen», beschreibt Gosteli die Arbeit auf dem Sozialamt. «Jedes Mal, wenn du einen Kopf triffst, kommt aus einem anderen Loch der nächste heraus.»

Anderthalb Jahre lang, von Oktober 2013 bis März 2015, arbeitete Christoph Gosteli auf dem Sozialamt in Langenthal. Es war sein erster regulärer Job nach dem Studium der Sozialen Arbeit. Während er damals mit Neugier in den Beruf eingestiegen war, so hat ihn seine Arbeit auf dem Sozialamt nachhaltig desillusioniert. «In meiner Vorstellung sollte die Sozialarbeit primär den Menschen helfen», sagt er. «Doch meine Arbeit auf dem Sozialamt war keine Hilfe. Es war Armutsverwaltung.»

100, 120, 136 Dossiers

Für sein anfängliches Berufsethos war die Arbeitslast zu gross. Etwa 100 Dossiers verwaltet einE VollzeitmitarbeiterIn eines Sozialamts im Durchschnitt. Je nach Amt sind es vielleicht 90, manchmal auch 125 oder 130. Die höchste der WOZ bekannte Zahl stammt aus der Stadt Zürich mit zwischenzeitlich 136 Dossiers pro MitarbeiterIn.

Pro Stellenprozent mindestens ein Dossier also. Das bedeutet, dass im Monat anderthalb Stunden für die Bearbeitung eines einzelnen Falls bleibt. Und obwohl die Einarbeitung in Langenthal vorbildlich gewesen sei, scheint ein solches Pensum unmöglich zu bewältigen, wenn man Gosteli zuhört: Wenn ein Dossier neu auf seinem Tisch landete, musste er zuerst sämtliche Dokumente einholen, die über die finanzielle Situation der KlientIn Aufschluss gaben: Steuerunterlagen, AHV-Dossier, Krankenkassen- und Versicherungsunterlagen, Mietvertrag, dasselbe auch von PartnerInnen und Kindern. Ein langwieriges Prozedere, da die wenigsten KlientInnen diese Belege einfach griffbereit haben. Danach musste er überprüfen, ob bereits eine vorgelagerte Stelle involviert ist: Arbeitslosenversicherung (ALV), Invalidenversicherung (IV), Ergänzungsleistungen (EL). «Man könnte meinen, dass diese Überprüfung reine Formsache ist», sagt Gosteli. «Doch es passiert oft ein Fehler, etwa dass Klienten falsch eingestuft werden. Jede Stelle versucht, so wenig wie möglich zu bezahlen. Wir arbeiten gegeneinander, die Betroffenen werden nach unten weitergereicht. Wir auf den Sozialämtern stehen ganz am Ende und fangen alle finanziellen Leistungen auf, die die anderen nicht übernehmen.»

Erst wenn alle administrativen Abklärungen erfolgt sind, wenn «die Menschen zu Dossiers gemacht wurden», wie Gosteli es nennt, beginnt das, was man gemeinhin unter sozialer Arbeit versteht: Beratung. «Das klingt vielleicht zynisch», sagt Gosteli. «Aber du bist froh um jedes Dossier, das dir wenig Arbeit gibt. Zum Beispiel ein alleinstehender arbeitslos gewordener Mittfünfziger, der kaum Chancen hat, nochmals einen Job zu finden. In dem Fall musst du ihm nur noch helfen, eine Tagesstruktur aufrechtzuerhalten.»

Sachbearbeiter statt Sozialarbeiter

Die hohe Arbeitslast auf den Sozialämtern ist eine Folge der schwächelnden Wirtschaft in den neunziger Jahren. Damals kamen die IV und die ALV zunehmend in finanzielle Schieflage. In der Folge verschärfte das Parlament in mehreren IV-Revisionen die Bedingungen für IV-Renten, was die Zahl der NeubezügerInnen markant zurückgehen liess. Die Zahl der LangzeitbezügerInnen bei der Sozialhilfe ist aber gleichzeitig gestiegen. Denn die IV-Revisionen änderten nichts an der Anzahl psychisch und körperlich Kranker in der Schweiz – nur daran, was für die Versicherung als unterstützungswürdig gilt. «Knapp zwei Drittel der Langzeitbeziehenden in der Sozialhilfe leiden nachweisbar unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen», schreibt die Städteinitiative Sozialpolitik in einer Studie zu den Kennzahlen der Sozialhilfe 2014. Wer heute zu gesund ist für die IV, bleibt oft zu krank für den Arbeitsmarkt. Für die SozialarbeiterInnen heisst das: Die Zahl der Dossiers steigt, und die Fälle werden komplizierter.

Zum Beispiel der Fall einer Familie, für die Christoph Gosteli zuständig war. «Als diese Familie bei uns landete, waren seitens der Eltern bereits andere Sozialversicherungen involviert», sagt Gosteli. Das war die bürokratische Ebene. Menschlich sah die Situation so aus: Der Vater war arbeitslos und spielsüchtig. Gosteli erfuhr davon, als ihn die Mutter einmal in Tränen aufgelöst anrief, weil ihr Mann das ganze Sozialgeld für den Monat in einer Nacht verprasst hatte. Die Mutter litt an Depressionen, die Kinder hatten Schwierigkeiten in der Schule. «Damit kämpfte ich ständig: Nach den ersten administrativen Abklärungen des Dossiers lernst du in den Gesprächen die Menschen kennen und merkst, was eigentlich alles schiefläuft und wo du ansetzen müsstest, um ihnen zu helfen. Doch dafür brauchst du Zeit, und die hast du nicht.»

Weit über die Hälfte seiner Arbeitszeit, schätzt Gosteli, war er nicht Sozial-, sondern Sachbearbeiter. Nicht nur wegen der Abklärungen und Überprüfungen am Anfang, sondern vor allem, weil er jedes Telefonat, jedes versandte E-Mail im Zusammenhang mit einem Dossier dokumentieren musste.

«Der Rechtfertigungsdruck auf die Sozialämter ist riesig», sagt Walter Schmid, Direktor der Abteilung Soziale Arbeit an der Hochschule Luzern. Die Medien schlachten Missbrauchsfälle als Skandal aus, die politische Rechte instrumentalisiert sie, um das soziale Netz noch löchriger zu machen. Dabei liegt die reale Missbrauchsquote bei höchstens fünf Prozent. «Die Kultur der ‹Null-Fehler-Toleranz› erhöht den Druck auf die Mitarbeitenden zusätzlich», sagt Schmid.

Der Leiter des Sozialamts Langenthal und ehemalige Chef Christoph Gostelis merkt das täglich. «Jeder Missbrauchsskandal führt dazu, dass unsere Arbeit grundsätzlich infrage gestellt wird», sagt Adrian Vonrüti. Dass auch auf dem Sozialamt Langenthal immer mehr dokumentiert, überprüft und kontrolliert wird, ist laut Vonrüti die direkte Folge der Ansprüche und des Drucks durch die Öffentlichkeit. Dabei versucht die Behörde, sich gegen Vorwürfe an ihre Arbeit möglichst abzusichern. «Das ist ja grundsätzlich nichts Schlechtes», so Vonrüti. «Aber wenn der Aufwand steigt, müsste man auch die Ressourcen ausbauen, und das passiert nicht genug.» Und am Urteil der Öffentlichkeit scheinen die zusätzlichen Massnahmen bisher ohnehin nichts zu ändern.

Panik, Krise, Kündigung

Ein halbes Jahr nachdem Gosteli die Stelle angetreten hatte, begann das enorme Pensum, ihn psychisch zu belasten. Zu der Zeit arbeitete er siebzig Prozent auf dem Sozialamt; parallel hatte er ein Studium an der Universität Freiburg begonnen. «Ich stand permanent unter Stress und konnte nicht mehr abschalten. Irgendwann kamen vereinzelte Panikattacken, meistens im Zug auf dem Weg zur Arbeit. Oder ich fühlte mich während der Arbeit wie gelähmt, sass vor dem klingelnden Telefon und war unfähig, irgendetwas zu machen.»

Die Symptome, die Gosteli beschreibt, waren erste Anzeichen einer Erschöpfungsdepression. Damit ist er nicht allein. Die Fluktuation auf Sozialämtern ist hoch, im Kanton Bern liegt sie im Durchschnitt zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent. Aber auch die Ausfälle wegen Burn-out und Erschöpfung sind bei Sozialämtern oft zahlreicher als in anderen Abteilungen, wie etwa Mattia Mandaglio vom VPOD Zürich feststellt. Konkrete Zahlen gibt es dazu allerdings kaum, da viele Verwaltungen Krankheitsausfälle aufgrund des Persönlichkeitsschutzes nicht nach Art der Krankheit aufschlüsseln.

Gosteli reagierte, bevor er sich wegen eines Burn-outs krankschreiben lassen musste. Als ihm seine Hausärztin sagte, dass er unter Stress leide, reduzierte er sein Pensum. Danach ging es ihm zwischenzeitlich besser, weil er wenigstens wieder etwas Freizeit hatte. Doch für seine KlientInnen hatte er deswegen nicht mehr Zeit. Im Sommer 2014 kam die Krise: «Ich fragte mich: Warum mache ich das alles überhaupt?»

Er verlor die Motivation. Er fühlte sich gefangen in einem System, in dem er helfen wollte, aber nicht konnte, das ihn zwang, Tag für Tag die Armut zu verwalten. Er wurde zynisch, war genervt, wenn eine Klientin sich schon wieder mit demselben Problem bei ihm meldete. Als ihm das bewusst wurde, kündigte er.

Gegen die Betroffenen ausgespielt

Heute sagt er rückblickend: «Das System ist darauf angelegt, die Menschen zu trennen. Die Betroffenen werden einzeln eingeladen, und wenn sie sich im Gang begegnen, senken sie den Kopf, um sich nicht in die Augen schauen zu müssen. So will man ihnen glauben machen, dass sie selbst schuld seien an ihrer Situation. Warum können wir zum Beispiel keine Gruppengespräche machen? Auch wir Sozialarbeiter werden gegen die Bezüger ausgespielt, denn wir haben nicht Zeit, uns wirklich um sie zu kümmern, und werden selbst von der Arbeit zermürbt. Eine Klientin sagte mir einmal: ‹Ich weiss, dass ich für euch nur ein Dossier bin. Aber für mich bist du mein Sozialarbeiter. Ich bin von dir abhängig.›»

An manchen Orten scheint sich mittlerweile das Bewusstsein durchzusetzen, dass die massive Überbelastung der SozialarbeiterInnen auch aus Sicht der Ämter nicht die Lösung sein kann: für das Ziel nämlich, die KlientInnen in den Arbeitsmarkt zu integrieren und die Kosten möglichst tief zu halten. Diesen Herbst starteten die Sozialämter Basel und Winterthur – unabhängig voneinander – zwei Pilotprojekte, die zeigen sollen, dass eine tiefere Fallzahl pro MitarbeiterIn zu besseren Ergebnissen führt. «Unsere Mitarbeiter waren unzufrieden, weil sie wegen der hohen Fallbelastung ihr professionelles Können und Wissen gar nicht einbringen konnten», sagt Nicole Wagner, Amtsleiterin der Sozialhilfe Basel. Seit November sind nun 30 der rund 180 Fallführenden ein Jahr lang mit nicht mehr als 80 Fällen betraut. Der Grosse Rat hatte sogar trotz Sparrunde eine Aufstockung um 10 Stellen bewilligt. «Im Rahmen des neuen Fallsteuerungskonzepts sollen die MitarbeiterInnen ihre Ressourcen auf jene Klienten konzentrieren, bei denen ein Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt wahrscheinlich scheint», sagt Wagner.

Christoph Gosteli arbeitet mittlerweile als Sozialpädagoge in einem Kinderheim. Für die Familie, die er in Langenthal betreut hatte, konnte er eine Aufgabenhilfe für die Kinder und eine psychologische Betreuung für die Mutter organisieren. Als er im März den Sozialdienst verliess, waren die Eltern so weit stabilisiert, dass sie Arbeit suchen konnten.