Burn-out: Mach kaputt, was dich kaputt macht

Nr. 44 –

Noch immer gilt Burn-out als Heldenabzeichen der kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Dass dabei emanzipatorische Errungenschaften bedroht sind, wird ausgeblendet.

Der Befund ist alt: Bereits vor zwei, drei Jahrzehnten war Burn-out als «Helfersyndrom» unter SozialarbeiterInnen ein Thema. Mittlerweile hat das Thema «Burn-out» die Zentren der Mediengesellschaft erreicht und lässt sich nicht mehr vertreiben.

Allein in den vergangenen drei Wochen erschienen dazu über sechzig Beiträge in Schweizer Medien: «Mal du siècle» – Krankheit des Jahrhunderts, titelte «Le Matin» am 15. Oktober, kurz darauf begründete Fussballnatitrainer Ottmar Hitzfeld seinen Rücktritt mit den Worten: «Ich will nicht nochmals ein Burn-out.» Und das Wirtschaftsmagazin «Eco» des Schweizer Fernsehens berichtete unter dem Schlagwort «Volkskrankheit als Geschäftsmodell» über Schweizer Kliniken, die sich auf Therapien gegen Burn-out spezialisiert haben. Dabei streiten Ärztinnen, Psychologen und Therapeutinnen anhaltend darüber, ob Burn-out ein eigenes Krankheitsbild sei, ein anderes Wort für eine erschöpfungsbedingte Depression oder nur eine von der Therapie- und Wellnesswirtschaft erfundene Mode.

Seelisches Leiden am Beruf

Manchen gilt Burn-out als krankhafte Erschöpfung der Leistungsstarken, sozusagen als «Heldenabzeichen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft». Depressiv sind dagegen die von vornherein antriebslosen und nicht leistungsbereiten «Schwachen» und latent «Nutzlosen». Deshalb wird öffentlich gerne über Burn-out und nicht so gerne über Depressionen gesprochen. Aber Burn-out betrifft alle Schichten, die Best- wie die am schlechtesten Verdienenden, Führungskräfte wie FliessbandarbeiterInnen.

Laut dem aktuellen Stressreport der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz klagen 43 Prozent der 18 000 befragten Angestellten über wachsenden Stress. Damit ist nicht der «positive Stress» gemeint, der während einer gelungenen und zudem allseits anerkannten Anstrengung empfunden wird. Sondern negativer Stress, der wiederum Auslöser für die verschiedensten psychischen Krankheiten sein kann. Was die Klagen über «Psychostress» konkret beinhalten, hat der Deutsche Gewerkschaftsbund untersucht: mehr Leistung in weniger Zeit, Präsenzdruck bei international zusammengesetzten Teams, die virtuell über Bildschirme zusammenarbeiten, ständige Um- und Neustrukturierungen in Unternehmen, ein unauflösliches Ineinandergehen von Arbeits- und Privatleben.

Es gibt Studien, die sagen, die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Erkrankungen habe sich in den letzten fünfzehn Jahren fast verdoppelt, andere gehen von sehr viel höheren Steigerungsraten aus – je nachdem, wie man das Phänomen Burn-out definiert. Besonders dramatisch ist die Bilanz der AOK, einer der grössten deutschen Krankenversicherer: Entfielen im Jahr 2004 auf je tausend AOK-Versicherte noch 8 Krankentage wegen Burn-out, waren dies 2010 bereits über 72 Tage. Seelisches Leiden am Beruf ist in Deutschland inzwischen einer der wesentlichen Gründe für vorzeitige Pensionierungen.

Auch in der Schweiz sind psychische Erkrankungen mittlerweile die mit Abstand häufigste Ursache von krankheitsbedingten Invaliditätsrenten. Gemäss Befragungen des Bundesamts für Statistik sagen rund vierzig Prozent aller Beschäftigten, sie litten an Schwäche und Energielosigkeit – klassische Vorzeichen eines Burn-outs. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) beziffert den volkswirtschaftlichen Schaden auf knapp acht Milliarden Franken. Einberechnet sind ärztliche Behandlungen ebenso wie Produktionsausfälle und Kosten für Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle.

Griff nach der Psyche

Der Soziologe Sighard Neckel von der Universität Frankfurt sieht die Ursachen für diese Entwicklung einerseits in der Tatsache, dass sich in unserer Gesellschaft die soziale Absicherung verringert hat, weshalb wir uns zunehmend selbst um die finanzielle Absicherung in existenziellen Belangen kümmern müssen: für das Alter, für Krankheits- und Pflegefälle. Was wiederum nicht allein mit zusätzlichem Zeit- und Energieaufwand verbunden sei, sondern auch mit grossen Unsicherheiten. Zweitens haben die politisch Verantwortlichen, so Neckel, die Arbeitsmarktordnungen mit Verweis auf die weltweite Konkurrenz zugunsten der Verwertungsinteressen der Unternehmen verändert – mit dem Resultat, dass die Arbeit intensiver, Arbeitszeiten länger, Arbeitsverhältnisse unsicherer und die Löhne eher geringer werden.

Der entscheidende dritte Schritt jedoch ist: Die seit Jahren herrschenden Managementmethoden greifen nicht nur nach Zeit und Arbeitskraft der Beschäftigten, sie greifen buchstäblich nach ihrer Seele, ihren Gefühlen, ihren Herzen, ihrer ganzen Kreativität und Motivation. Der Griff nach der Psyche des Menschen, diese innere Landnahme durch die Mechanismen der Profit- und Wettbewerbslogik, ist die Signatur dieses relativ neuen kapitalistischen Arbeitslebens.

Die Beschäftigten werden bis in die untersten Ebenen hinein – ob Kassierer im Supermarkt oder Versicherungsvertreterin auf Tour – nicht mehr aufgrund ihrer Leistungen und ihres Aufwands entlöhnt. Sie werden vielmehr ausschliesslich nach Ergebnissen und Erfolgen bewertet, auf konkrete Umsatz- und Gewinnvorgaben verpflichtet: Deadlines, Milestones, Zielvereinbarungen.

Längst gehört auch der Begriff der Selbstausbeutung zur Alltagsvokabel. Der Kultursoziologe Ulrich Bröckling beschäftigt sich seit einigen Jahren mit dem «unternehmerischen Selbst» und ist zum Schluss gekommen, dass sich der Imperativ «Handle unternehmerisch» in der Gesellschaft so durchgesetzt hat, dass das Individuum gezwungen wird, sich entweder als Freelancer ständig um neue Aufträge zu bewerben oder sich als befristet Angestellte immerfort nach neuen Projekten und Jobs umzusehen. Es herrscht, so Bröckling, der Zwang zu einer «permanenten Selbstoptimierung» des Geistes wie des Körpers.

Nur wenige richten ihren Blick auf die Antreiber des Phänomens Burn-out: auf das Duo Finanzmärkte und neue Kommunikationstechniken. Sie haben, so der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, «eine Kaskade der Beschleunigung» ausgelöst, die die grossen börsenkotierten Unternehmen sowie in der Folge auch ihre Zulieferer und die von ihnen abhängigen KMUs antreibt. Für eine Mehrheit besteht ein simpler Sachzwang: Unsere moderne Leistungsgesellschaft ist halt so. Und deshalb soll eine anhaltend wachsende Berater- und Ratgeberindustrie – im Verbund mit den Angeboten der Pharmaindustrie – helfen, Unternehmen, Verwaltungen und insbesondere deren Führungskräfte wieder auf die Beine zu stellen.

Das erste Ziel: die Resilienz stärken, das heisst die Leistungsfähigkeit der wichtigsten MitarbeiterInnen auch unter widrigsten Umständen aufrechterhalten. Es gibt Beratungsfirmen, die Unternehmen eine Notambulanz anbieten: MitarbeiterIn zusammengebrochen? Anruf genügt, wenn es sein muss auch mitten in der Nacht. Der Sozialpsychologe Götz Eisenberg beurteilt diese Angebote wie folgt: Statt im «drohenden Kollaps» dieser Menschen «ein stummes Nein gegen unzumutbare und unmenschliche Arbeits- und Lebensverhältnisse zu sehen und den Menschen dabei zu helfen, ihre unbewusst-psychosomatische Revolte auf den ‹politischen Begriff› zu bringen und in bewussten Widerstand zu transformieren, wird das Rad, das abgesprungen ist, wieder an den Wagen montiert». ADHS, Burn-out, Depression und Stress seien im Kern soziale Leiden, sie würden jedoch zu individuellen Krankheiten umetikettiert. Und zu einem «riesigen Feld der Bereicherung» für die Pharmaindustrie gemacht.

Das Potenzial der Burn-out-Debatte

Um die möglichen geistig-ideologischen Schäden einschätzen zu können, ist noch einmal an den Kern des Prozesses zu erinnern. Die Unternehmen und ihr Management greifen nach der Psyche der Beschäftigten mit Prinzipien, die aus der Welt der Aufklärung und Demokratie stammen: Autonomie, Selbstorganisation, Selbstverwirklichung, Enthierarchisierung, Eigenverantwortung. Diese Prinzipien der Emanzipation werden in den unternehmerischen Alltag integriert, dort den Beschäftigten erst entwendet, dann gegen sie gewendet und in den Dienst der betriebswirtschaftlichen Verwertung gestellt. Wir haben es also auch mit einem ideologischen Prozess der Umkehrung und des Verrats von Begriffen der Emanzipation zu tun.

Sighard Neckel gibt sich trotzdem zuversichtlich. Für ihn birgt die Burn-out-Debatte einen Kern, der ein gesellschaftsveränderndes Potenzial in sich trägt. «Wenn die Unternehmen von den Menschen verlangen, ihre Energie, Kreativität und Motivation zu mobilisieren, dann hat das eine Eigendynamik. Diese Potenziale an Eigenständigkeit können die Unternehmen irgendwann einmal nicht mehr kontrollieren.» Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, sieht das ähnlich: «Es geht darum, die Menschen nicht nur widerstandsfähiger, sondern auch widerständiger zu machen gegen Verhältnisse, die sie immer wieder krank machen werden.»