Arbeitslosenversicherung: Die Kürzung ist nicht nötig

Nr. 33 –

Ende September wird über die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes abgestimmt. Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), über den vermeintlichen Aufschwung, falsche Zahlen und ein ungerechtes Beitragssystem.

WOZ: Daniel Lampart, aus der Wirtschaft vernimmt man wieder vermehrt positive Meldungen. Ist die Krise wirklich schon vorbei?

Daniel Lampart: In der Krise der letzten Jahre ist das Bruttoinlandsprodukt vieler Staaten stark zurückgegangen, teilweise um vier bis fünf Prozent. So etwas haben wir in der Nachkriegszeit noch nie erlebt. Jetzt gibt es ein Wirtschaftswachstum, weil die Lager wieder aufgefüllt werden, weil wir aufholen. Es ist klar, dass dieser Aufholprozess zu starken Wachstumsraten führt. Aber die Krise ist erst vorbei, wenn die Arbeitslosigkeit in Europa und in Amerika stark sinkt. Im Moment sinkt sie vor allem in Deutschland, aber in anderen EU-Ländern und in den USA ist sie konstant hoch. Erst wenn sich diese Zahlen verbessern, haben die Leute wieder mehr Geld, mehr Einkommen. Und dann steigt auch der Konsum wieder.

In der Schweiz geht die Arbeitslosigkeit zurück. Also ein positives Zeichen?

Es scheint so. Aber wir befinden uns in einer fragilen Situation. Die Schweiz hat ein besonderes Problem: Der starke Franken macht der Wirtschaft zu schaffen – vor allem im Tourismus und in der Exportindustrie. Und wenn der Franken so teuer bleibt, dann werden wir das auch Ende Jahr noch spüren.

Was bedeutet das für die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG), über die in der Schweiz Ende September abgestimmt wird?

In vielen Regionen sind die Probleme nach wie vor gross. Im Jura oder in Neuenburg ist im Juli die Erwerbslosigkeit nicht zurückgegangen. Wenn die Revision tatsächlich durchkommt, dann werden die Leistungen der Versicherten massiv gekürzt. Auch die betroffenen Kantone werden das stark spüren. Die Aussteuerungen werden zunehmen. Aus den Kantonen und aus den Städten gibt es deshalb grossen Widerstand gegen die AVIG-Revision.

Um die Arbeitslosenversicherung zu sanieren, sollen durch Beitragserhöhungen 646 Millionen Franken mehr eingenommen und durch Leistungskürzungen 622 Millionen weniger ausgegeben werden – auf den ersten Blick eine ausgewogene Vorlage .

Das behauptet der Bundesrat. Aber für einzelne Arbeitnehmende ist die Revision äusserst hart. Vor allem für ältere Menschen: Sie werden nach der Revision vermehrt ausgesteuert werden. Auch Leute, die krank waren oder einen Unfall hatten, werden es schwer haben, weil sie weniger lang Taggelder beziehen können. Diese Leute werden sehr viel schneller auf Sozialhilfe angewiesen sein. Sie werden ihre Pensionskassenguthaben aufbrauchen müssen und stehen im Alter dann vor dem Nichts. Es ist eine Illusion zu glauben, dass so Geld gespart wird. Die Revision führt höchstens zu einer Kostenverlagerung in die Sozialhilfe. Und am Ende bezahlt das doch wieder der Staat.

Das bedeutet höhere Steuern?

Die Verlagerung von der Arbeitslosenversicherung in die Sozialhilfe kostet 200, 300 Millionen Franken oder mehr. Bezahlen muss das der Steuerzahler. Wir haben ausgerechnet, dass das pro Kopf rund 100 Franken mehr Steuern bedeutet. Der Bund führt die Leute an der Nase herum, wenn er behauptet, die Revision sei ausgewogen. Die Kosten der Revision werden die Leute mit tiefen und mittleren Einkommen tragen, weil sie mehr zahlen müssen, aber weniger Leistungen erhalten. Und die ganz oben sind davon ausgenommen.

Die Reichen bezahlen doch ebenfalls für die Arbeitslosenversiche-rung ...

Ja, aber nicht bis ganz oben. In der Schweizer Sozialpolitik ist es üblich, dass auch die höchsten Einkommen Beiträge zahlen – etwa bei der IV oder der AHV. Aber bei der Arbeitslosenversicherung gibt es eine Plafonierung, ein Beitragsmaximum bei 126 000 Franken. Jeder Franken, der darüber liegt, ist nicht beitragspflichtig. Diese Grenze wollen wir aufheben. Alle, auch die ganz Reichen wie Brady Dougan, sollen zahlen. Heute zahlt der CS-Chef maximal 2520 Franken pro Jahr in die Arbeitslosenversicherung, egal wie viele Millionen er verdient. Wenn die Reichen in der Schweiz in Zukunft auf ihr ganzes Einkommen 2,2 Prozent ALV-Abgaben zahlen würden, wäre die Versicherung saniert – ohne dass die Leistungen gekürzt werden müssten.

Die Leistungskürzungen wären gar nicht notwendig, wenn auch die Einkommen über 126 000 Franken abgabepflichtig würden?

Richtig, die Leistungen für die Leute unten wären garantiert, wenn man die Leute oben in die Pflicht nehmen würde. Im Parlament hat es dazu einen Antrag gegeben, aber er wurde abgelehnt. Das zuständige Departement von Bundesrätin Doris Leuthard hat falsche Zahlen geliefert. Es hiess, eine solche Deplafonierung würde bloss 400 Millionen Franken einbringen. Aber jetzt haben wir das nachgerechnet. Auch die Konjunkturforschungsstelle der ETH hat nachgerechnet: Die Deplafonierung würde 600 Millionen Franken bringen, vielleicht sogar mehr. Die Leistungskürzungen wären also gar nicht nötig. Leider hatte das Parlament damals eine völlig falsche Grundlage, sodass es keine faire Entscheidung geben konnte.

Von den geplanten Leistungskürzungen sind vor allem zwei Gruppen betroffen: die Langzeitarbeitslosen und die Jungen.

Und auch diejenigen, die krank werden. Neulich habe ich von einer über fünfzigjährigen Frau gehört, die in einem Büro arbeitete, dann aber an Krebs erkrankte und den Job verlor. Nach zwei Jahren ist sie wieder gesund und sollte arbeiten gehen: Heute hat sie noch ein Jahr Zeit, einen Job zu finden, bevor sie ausgesteuert wird. Nach der AVIG-Revision hat sie aber nur noch vier Monate Zeit. Danach muss sie zur Sozialhilfe.

Die Internationale Arbeitsorganisation ILO warnt vor einer «verlorenen Jugend», weil weltweit rund dreizehn Prozent oder 81 Millionen Jugendliche arbeitslos sind.

In gewissen Ländern ist die Situation tatsächlich sehr bedenklich. In Griechenland ist fast ein Drittel der Jugendlichen arbeitslos. Das ist extrem. In der Schweiz liegt die Zahl etwas tiefer. Bei jungen Ausländerinnen haben wir eine Arbeitslosigkeit von rund zwölf Prozent. Das ist einerseits für die Betroffenen schwierig, geht aber auch die ganze Gesellschaft an: Wer in jungen Jahren keine Stelle findet, wird sein ganzes Leben mehr Mühe haben, ein geregeltes Arbeitsleben zu führen.

Wenn wir wollen, dass die Sozialwerke auch in Zukunft gesichert sind, dann müssen wir bei den Jugendlichen ansetzen. Die Jungen brauchen Arbeit, gute Arbeit. Wir dürfen nicht auf ihnen rumhacken und ihnen die Leistungen kürzen.

Gerade das passiert jetzt aber.

Das ist ja der Unsinn am Ganzen: Wenn jemand ein Studium gemacht hat und keinen Job findet, geht er heute aufs RAV. Dort wird auch geschaut, wie er sich bewirbt. Aber auf der Sozialhilfe wird ihm niemand dabei helfen, Bewerbungen zu schreiben. Dafür ist die Sozialhilfe einfach nicht geschaffen.

Das Sozialamt ist der falsche Ort?

Absolut. Die Sozialhilfe ist für Personen, die nicht arbeitsfähig sind, die zu wenig verdienen oder aus gesundheitlichen Gründen Hilfe brauchen. Aber Leute, die arbeiten können und wollen, sind dort am falschen Ort. Die gehören in die Arbeitslosenversicherung.

Dennoch: Die Arbeitslosenversicherung ist überschuldet und muss saniert werden. Was geschieht, wenn die AVIG-Revision abgelehnt wird?

Dann muss der Bund eine neue Revision in die Wege leiten. Unser Vorschlag der Deplafonierung wird die Alternative sein. Sie funktioniert. Niemand versteht, warum die Abzocker mit ihren hohen Löhnen, die die Schuld an der Krise tragen, keinen Beitrag an die Versicherung leisten sollen.

AVIG-Revision: Die Kernpunkte

Immer wenn man sie braucht, ist die Arbeitslosenversicherung (ALV) überschuldet. Im Frühling 2010 überschritt sie den gesetzlichen Rahmen von sechs Milliarden Franken Schulden, Tendenz steigend. Der Bund ist deshalb verpflichtet, eine Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) in die Wege zu leiten. Über die 4. AVIG-Revision stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung am 26. September ab. Die wesentlichen Punkte im Überblick:

Schuldenabbau: Die ALV soll mit Mehreinnahmen und Minderausgaben saniert werden. Die ALV-Beiträge sollen deshalb von 2 auf 2,2 Prozent erhöht und es soll ein Solidaritätsprozent für Einkommen zwischen 126 000 und 315 000 Franken eingeführt werden. Diese Beitragserhöhungen bringen laut Staatssekretariat für Wirtschaft jährliche Mehreinnahmen von rund 648 Millionen Franken. Gleichzeitig will der Bund mit einer Reihe von Leistungskürzungen 622 Millionen Franken weniger ausgeben.

Bezugsdauer: Die Anzahl Taggelder würde enger mit der Beitragsdauer verknüpft. Wer heute ein Jahr ALV-Beiträge zahlt, hat eineinhalb Jahre Anspruch auf Taggelder. Über 55-Jährige erhalten heute bei eineinhalb Jahren Beitragsdauer zwei Jahre lang Taggelder.

Nach Annahme der Revision wäre man nur noch so lange bezugsberechtigt, wie man Beiträge gezahlt hat. Die maximale Bezugsdauer würde grundsätzlich auf eineinhalb Jahre beschränkt. Über 55-Jährige erhielten nur noch zwei Jahre Taggelder, wenn sie mindestens zwei Jahre Beiträge gezahlt hätten.

Schul- und StudienabgängerInnen erhielten nach der Revision nur noch vier Monate lang Taggelder (bisher neun Monate), junge Arbeitnehmende unter 25 Jahren nur noch neun Monate (bisher eineinhalb Jahre).

Zwischenverdienst: Wer als Arbeitsloser zwischenzeitlich eine schlechter bezahlte Stelle annimmt, erhält bisher eine Ausgleichszahlung durch die ALV. Bei erneuter Arbeitslosigkeit gilt der Zwischenverdienstlohn zusammen mit der Kompensationszahlung als Basis für die Berechnung der Taggelder. Neu sollen diese Kompensationszahlungen nicht mehr angerechnet werden. Zwischenverdienste verlieren dadurch an Attraktivität.

Wartezeit: Bisher gilt eine Wartezeit von fünf Tagen. Neu soll diese bis zu zwanzig Tagen dauern. Ausserdem sollen Schul- und StudienabgängerInnen neu erst nach einer Wartezeit von sechs Monaten Taggelder erhalten. Bis dahin müssen sie zur Fürsorge.

Kostenverlagerung: Die Kantone und Gemeinden befürchten durch die AVIG-Revision eine Kostenverlagerung hin zur Sozialhilfe. Die Kantone sprechen von 140 bis 240 Millionen Franken Mehrkosten für die Sozialämter. Der Bund bestreitet die Kostenverlagerung nicht, spricht aber lediglich von knapp 100 Millionen Franken.

Linke Parteien und Gewerkschaften haben gegen die AVIG-Revision das Referendum ergriffen. Sollte die Revision am 26. September abgelehnt werden, würden als Übergangslösung bis zu einer erneuten Revision die ALV-Beiträge ab Anfang 2011 von 2 auf 2,5 Prozent erhöht und ein Solidaritätsprozent für die hohen Einkommen zwischen 126 000 und 315 000 Franken eingeführt werden.