Russischunterricht: Ein ideologischer Schauder in Schweizer Stuben

Nr. 49 –

Der Verein der RussischlehrerInnen in der Schweiz feiert Ende Jahr vierzig Jahre seines Bestehens. Seine Geschichte wurde von Soldaten, Dichtern und Skilehrerinnen geschrieben, von politischen Weltwinden und Schweizer Gymnasialrektoren.


Wer am 22. April 1968 um 17.30 Uhr das Schweizer Fernsehen einschaltete, kam gerade rechtzeitig zur Sendung «Russisch für Sie». Peter Brang, Professor für Slawistik in Zürich, führte das Fernsehpublikum in die russische Sprache ein. «Ein Bombenerfolg, über 12 000 bestellte Lehrbücher», titelte die Presse. Als im gleichen Jahr sowjetische Panzer in Prag einrollten, hat man nach Diskussionen in der Redaktion entschieden, die Sendung trotzdem nicht abzusetzen. Man habe den Russischkurs schliesslich nicht aus Sympathie für die Machthaber im Kreml begonnen, rechtfertigte Fernsehdirektor Guido Frei den Entscheid. Generalsekretär Breschnew habe mit dem Dichter Puschkin nichts zu tun, das sei der Schweiz klar gewesen, meint auch Brang.

Die Geschichte des Schweizer Russischunterrichts ist ein Nebenschauplatz der schweizerisch-russischen Beziehungen. Doch wie Jacques Derrida sagt: Geschichte soll man von den Rändern her schreiben. Bekannt ist, dass an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die Schweiz ein Refugium für russische Revolutionäre und Frauenrechtlerinnen war. 1907 machten Studierende russischer Herkunft gar ein Drittel der Zürcher StudentInnenschaft aus. Heute, ein Jahrhundert später, hört man von den beträchtlichen Umsätzen, die Schweizer Skiorte dank der Moskauer Oligarchie verzeichnen. Weniger weiss man jedoch darüber, welches Interesse in der Schweiz an Russland bestand. Es gab eine Zeit, als ganze Scharen von EidgenossInnen gen Osten zogen in der Hoffnung, im Zarenreich als Gouvernanten, Käser, Militärs oder IngenieurInnen eine Karriere zu machen, die ihnen in der wirtschaftlich kriselnden Schweiz verwehrt blieb. Während des Kalten Krieges reduzierte sich der Austausch grösstenteils auf furchterregende Schlagzeilen, die über den Eisernen Vorhang hinweg in Schweizer Stuben ideologischen Schauder schürten. Wer wollte da Russisch lernen?

Russisch für Offiziere

Im Oktober 1963 doziert in der «Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift» Ivo Tschirky, Hauptmann und Dozent am ETH-Institut für militärische Sicherheitstechnik, in der 6. Lektion der Rubrik «Russisch für Offiziere» nicht nur über russische Signaturen für Division, Bataillon und Kompanie, sondern will auch gleich russische Grammatik unterrichten. Neben sprichwörtlichen Weisheiten zur Einsicht in die russische Kultur – «Wer Sahne liebt, füttert die Kuh» und «Er schaut nach rechts, aber spricht nach links» – lernen die Leser folgende Sätze ins Russische zu übertragen: «Die Kompanie umzingelt das Dorf. Sie greift es am Morgen um fünf Uhr an. Der Kommandant beobachtet, wie aus dem Zentrum des Dorfes geschossen wird. Er lässt aus seinem Zug einen Angriffstrupp formieren.» Die gemachten Hausaufgaben darf man direkt dem Hauptmann schicken: «Korrekturen übernimmt die Kursleitung gratis.»

Derselbe Ivo Tschirky führte 1958 als Erster in einer Schweizer Mittelschule, der Kantonsschule St. Gallen, Russischunterricht ein. Etwa um die gleiche Zeit, und damit relativ spät im internationalen Vergleich, begann sich die slawische Philologie an den Schweizer Universitäten als Fach zu etablieren. Gründe für diese Verspätung liegen einerseits in der Schweizer Mehrsprachigkeit, die vor allem Austausch und Ausgleich zwischen der deutschen, französischen und italienischen Kultur zur ständigen Aufgabe machte. Andererseits aber auch im Umstand, dass ein unmittelbar politisch motiviertes Interesse fehlte. Braucht es Politik, um Dostojewski zu lesen?

1969 wird der Verband der RussischlehrerInnen (OPRJaSch) an der Zürcher Universität gegründet. Die Statuten verpflichten den Verband zur politischen und konfessionellen Neutralität, um allfälligen politischen Implikationen eines Beitritts zum damals sowjetisch beherrschten Dachverband vorzubeugen, der 1970 tatsächlich erfolgte. Ziel des Vereins ist «die Verbreitung und die Verbesserung des Russischunterrichts in der Schweiz». Heute übernehmen diese Aufgabe nicht nur Gymnasien und Universitäten, sondern auch Volkshochschulen und Migros-Klubschulen. Eine Erfolgsgeschichte? «Nein, es war immer sehr schwierig, ein langer Kampf», erklärt Professor Brang, Mitinitiator des Verbands.

«Prawda» als Lehrmittel

Peter Brang begab sich als deutscher Soldat – er war Nachrichtennahaufklärer für Englisch – freiwillig in amerikanische Kriegsgefangenschaft. 1943 begann er im Internierungslager in Pennsylvania mit der russischen Tageszeitung «Prawda» Russisch zu lernen. Es war für ihn bald klar, dass er diese Sprache studieren würde. Nach dem Studium in Deutschland wurde Brang 1961 an die Universität Zürich berufen. Dort widmete er sich vor allem der Vermittlung der klassischen Literatur: Puschkin und der Klang von Puschkins Dichtung. Gleichzeitig engagierte sich Brang für die Einführung und Weiterentwicklung des Russischunterrichts in der Schweiz. Die Geschichte des Verbandes sei ein «Kampf um Verständnis gewesen, dass Russland und die russische Kultur von Bedeutung sind», erzählt er. Sein eigenes vielseitiges Engagement für die russische Sprache, so Brang, sei aber auch deswegen möglich gewesen, weil er sich gegenüber der kommunistischen PdA und anderen politischen Akteuren in grosser Zurückhaltung übte. Und trotzdem: «Was hatten wir zu kämpfen, um Kontakte zu knüpfen und Visa zu bekommen. Die Schweiz hatte ja kein Kulturabkommen mit der Sowjetunion.» Wenn seine StudentInnen von der Zürcher Polizei bespitzelt wurden, protestierte er bei den zuständigen Stellen mit einer Eingabe.

Dilettantischer Staatsschutz

Mit Politik habe er direkt nichts zu tun gehabt, sagt Thomas Schmidt, der heutige Vereinspräsident. Er habe sein Studium der russischen und englischen Philologie 1979 aus «Interesse an Fremd- und Eigenbildern» begonnen. «Es ist mir nie passiert, dass man mir eine politische Entscheidung unterstellt hätte, nicht einmal von den Vorgesetzten im Militär.» Die ideologische Rollenteilung sei aber klar gewesen: Die Schweiz im westlichen Bündnis auf der einen Seite, der rote Gegner auf der anderen. «Der Russischunterricht war deshalb eigentlich immer auch eine politische Sache», sagt Schmidt. Nach dem Fichenskandal von 1989/90 forderte er, wie viele andere aus dem Fach, seine Fiche an. Immerhin hatte er ein Jahr in der UdSSR studiert. Es wurde ihm mitgeteilt, dass nichts vorläge. «Dilettantismus», sagt Schmidt.

«Lächerlich», befand auch die pensionierte Russischlehrerin Elisabeth Goslicka, als sie von der Staatsschutzabteilung ihre Fiche erhielt. Zwischen vielen eingeschwärzten Spitzelnamen sind zum Beispiel ihre Teilnahme an Sprachkursen – auch im westlichen Ausland – und Grenzübertritte in den Ostblock aufgeführt. Ein Eintrag des Jahres 1987 gibt ihr besonders zu denken: «Im Zusammenhang mit der Schweiz. Vereinigung für Russischlehrer wird auch G. erwähnt.» Und gleich anschliessend: «Bericht betr. Schweiz. Vereinigung für Russischlehrer. Im Kt. ZH ist keine solche Organisation bekannt.»

Russland bleibt das andere

Thomas Schmidt unterrichtet an der Kantonsschule Zürich Enge, wo früher auch Elisabeth Goslicka arbeitete. Elf SchülerInnen haben in diesem Jahr das Schwerpunktfach Russisch gewählt. «Die Schülerzahlen waren immer unberechenbar, aber das politische Feindbild, die Klischees haben stets eine Rolle gespielt.» In den achtziger Jahren, zur Zeit der Perestroika, hatte das Fach vermehrten Zulauf. Die neunziger Jahre und das Reformchaos unter Boris Jelzin brachten neuerliche Stagnation. «Es geht um das Bild des anderen. Russland fasziniert mit seiner schier unendlichen Weite, die der kleinen Schweiz diametral gegenübersteht», sagt Schmidt. Obwohl heute der Weg nach Russland viel kürzer ist, sei es noch immer «das andere», viel mehr, als dies Prag oder Budapest je waren. Die Exotik hat sich noch nicht in Normalität verwandelt. «Die transsibirische Eisenbahn. Und die seltsame russische Seele. Was ist das überhaupt? Gibts das?» Andererseits sei Russland als Imperium wenig sympathisch, das bringe das Machtstreben mit sich. Das Gleiche gelte ja für die USA. Werte würden eine Rolle spielen, Menschenrechte. Die russische Homophobie beispielsweise sei unattraktiv für eine moderne Gesellschaft. «Ich fühle mich nicht immer ganz wohl, dann aber auch wieder wahnsinnig nah. Mein Verhältnis zu Russland ist ambivalent.» Diese Ambivalenz wolle gelebt sein: «Man muss die Unterschiede benennen, um tolerant sein und in einen Dialog treten zu können.»

Heute werden in Davos dringend des Russischen mächtige SkilehrerInnen gesucht. Die russischen Feriengäste sind gern gesehen, sie stopfen das Januarloch, weil sie ihre Weihnachten erst am 7. Januar feiern und am 14. Januar das alte russische Neujahr nach dem julianischen Kalender.

Gleichzeitig kämpfen RussistInnen sowohl an Mittel- wie auch an Hochschulen weiter dagegen, dass ihr Fach im Zuge der aktuellen Sparprogramme wegrationalisiert wird. Die Entwicklung sei fatal, sagt Thomas Schmidt: «Die Sprach- und Literaturforschung gehört weiterhin an die Uni!» Peter Brang sieht auch positive Seiten: «Wenn heute kein Altkirchenslawisch mehr unterrichtet wird, dann lernen die Studierenden dafür viel mehr Praxis.» Und die kann man auch gleich anwenden. Es braucht nur ein schickes Skitenue.


Vierzig Jahre OPRJaSch

1969 wird in Zürich der Verein der RussischlehrerInnen in der Schweiz (OPRJaSch) gegründet. Im Jahr darauf erfolgt der Beitritt zum internationalen Verband, dessen Hauptsitz sich gegenwärtig in St. Petersburg befindet. 1980 erhalten 615 Jugendliche an 34 Mittelschulen Russischunterricht.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der neunziger Jahre setzt sich OPRJaSch erfolgreich gegen die Schliessung des Faches in Bern ein. 1995 wird Russisch an den Mittelschulen zu einem Schwerpunktfach aufgewertet. Begründung: «Die Exportindustrie, das Banken- und das Versicherungswesen können das Marktpotential Russlands nur dann nutzen, wenn sie über die Mitarbeiter verfügen, die sowohl die russische Sprache beherrschen als auch mit der Mentalität (...) vertraut sind.» 2004 soll an der Uni Basel die Slawistik abgeschafft werden. OPRJaSch demonstriert mit. Letztes Jahr unterrichteten die RussischlehrerInnen an 40 Mittelschulen rund 700 Jugendliche, davon 150 im Schwerpunktfach.

Der Verband zählt heute 122 Mitglieder, davon ist ein Drittel russischer Herkunft.