Geschichte im Krieg: «Die Uni Bagdad lebt noch»

Nr. 27 –

Der irakische Historiker Haschim at-Tikriti lehrt an der Universität Bagdad Neuere Geschichte. Er unterrichtet im Ausnahmezustand und hofft, dass sich die positiven Wirkungen des Geschichtsstudiums auch im Irak wieder bemerkbar machen.

WOZ: Herr at-Tikriti, spreche ich Ihren Namen korrekt aus?

Haschim at-Tikriti: Ja, Tikriti, der Name kommt vom Ort Tikrit, aus dem auch der berühmte Saddam stammt ...

Im Irak sind in den letzten Monaten viele Intellektuelle umgebracht worden. Gehen Sie noch jeden Tag zur Arbeit?

Die erste Hälfte Ihrer Aussage stimmt. Was die zweite Hälfte betrifft: Das ist unser Schicksal. Wir können nichts anderes tun, als jeden Tag zur Arbeit zu gehen.

Aber fürchten Sie sich davor, zur Arbeit zu gehen?

Natürlich. Sobald ich das Haus verlasse, bin ich in Lebensgefahr; wenn ich am Abend unversehrt zurückkehre, bin ich froh. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Intellektuellen, sondern für alle Bürger des Landes.

Bagdad ist am Rande der Anarchie.

Es herrscht eher ein organisiertes Chaos. Armee und Polizei sind zwar da, aber sie erfüllen nur kosmetische Aufgaben. Kürzlich hat eine kriminelle Gruppe einen meiner Verwandten entführt. Ich bin zur Polizei gegangen und habe den Vorfall gemeldet, aber sie weiss nicht, was sie tun soll. Sie ist ohnmächtig. Die Behörden kümmern sich nur um grössere Ereignisse wie Explosionen und Anschläge. Entführungen, Diebstähle und Plünderungen sind an der Tagesordnung, doch die Polizei überlässt das den Bürgern.

Was bedeutet diese Situation für den Universitätsbetrieb?

Die Universität Bagdad lebt noch und erfüllt ihre Aufgaben, zumindest formal. Die Studenten kommen und gehen, die Lehrkräfte unterrichten. Aber das wissenschaftliche Niveau ist seit dem Embargo und besonders mit dem Krieg massiv gesunken. Der Lehrkörper wird von Milizionären bedroht. Viele Dozenten sind entführt und ermordet worden. Wer sich in einer Fremdsprache unterhält, macht sich als Spion verdächtig. Viele Universitätsbibliotheken wurden vernichtet oder ausgeraubt. Die Bücher der historischen Abteilungen tauchen jetzt auf lokalen Märkten nach und nach wieder auf.

Wie viele Studenten betreuen Sie?

Die Universität Bagdad hat 44 000 Studenten. Ein Dozent muss im Schnitt etwa 300 Studierende betreuen und verdient 200 US-Dollar im Monat. Ich und meine Kollegen haben seit eineinhalb Jahren kaum mehr Lohn erhalten, wir sind auf Zusatzeinkommen angewiesen.

Finden die Studierenden überhaupt Zeit und Ruhe, sich mit dem Stoff auseinander zu setzen?

Die Studenten von heute sind im Grunde die gleichen wie früher: Sie gehen zur Uni, sitzen im Hörsaal und hören zu - oder auch nicht. Die Ernte an Wissen hat nicht zu- oder abgenommen. Die alte Krankheit ist noch immer da: das Desinteresse an echtem Wissen. Allerdings funktioniert heute das Absenzenwesen nicht mehr, die Kontrolle ist dem Lehrkörper entglitten. Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass viele Studenten unregelmässig auftauchen. Viele kommen nicht zur Vorlesung, weil sie wegen der widrigen Bedingungen verhindert sind, andere aber, weil sie nicht wollen.

Die irakische Gesellschaft befindet sich in einer schweren Krise. Kann die Geschichtswissenschaft etwas zu deren Bewältigung beitragen?

Die Beziehung des Menschen zum Wissen ist abhängig von den herrschenden Umständen einer Gesellschaft. Früher hatten wir zwar ein strenges, ja totalitäres Regime, das hatte aber auch seine guten Seiten. An den Schulen und Universitäten herrschte eine gewisse Disziplin. Das Studium brachte zwar kaum Geld ein, diente aber dazu, den eigenen sozialen Status zu verbessern. Heute ist die Unsicherheit so gross, dass sich viele in erster Linie mit der Frage beschäftigen, was sie mit dem Studium finanziell verdienen können. Wenn die Unsicherheit vorbei ist, erwacht hoffentlich die alte Begeisterung fürs Wissen wieder. Die positiven Wirkungen, die das Studium der Geschichte in anderen Ländern hat, werden sich hoffentlich auch im Irak bemerkbar machen.

Führt die jetzige Krise zu einem kollektiven Gedächtnisverlust, zu einem Schwinden des Geschichtsbewusstseins?

Die Geschichte des Irak beweist, dass das irakische Volk ein intaktes Nationalbewusstsein hat und eine historische Geduldsprobe durchstehen kann. Dieses Volk hat viele Krisen überwunden, auch die jetzige wird vorbeigehen. Es gab Perioden, während deren die Regierungen nicht die Bestrebungen des Volkes repräsentierten, aber das Volk hat es bemerkt. Die momentane Lage ist deprimierend und frustrierend, die Leute haben die Lust am Studieren und am Arbeiten verloren. Aber ich bin sicher, sobald die Umstände sich verbessern, wird das Volk wieder zu seinem alten nationalen Bewusstsein zurückfinden und versuchen, echte langfristige Ziele zu verwirklichen.

Sie sind unter der Herrschaft von Saddam Husseins Regime Professor geworden. Konnten Sie damals frei forschen?

Die Baath-Partei kam 1968 an die Macht, elf Jahre später übernahm Saddam die Führung [vgl. unten]. Zuerst war das Regime vor allem mit der Installierung seiner Herrschaft beschäftigt, also mit sich selbst, doch die Lage wurde je länger, desto schlimmer. Die Restriktionen betrafen bald auch die Universität. Das Ministerium erliess so genannte rote Linien für die Forscher, die nicht überschritten werden durften. Davon war zum Beispiel das Wissen um die beherrschende Rolle von Clans in der Politik betroffen. Das Regime hatte kein Interesse daran, dass man den Studenten diese Mechanismen der irakischen Geschichte erklärte. Wissenschaftliche Arbeiten glichen ab 1960 zunehmend mehr chronologischen Aufzählungen denn analytisch-kritischen Auseinandersetzungen.

Sie haben einen Teil Ihrer Ausbildung Mitte der sechziger Jahre in Moskau absolviert. Hat die marxistische Geschichtsauffassung Sie geprägt?

Der Irak war damals eng mit der Sowjetunion befreundet. Zusammen mit anderen schrieb ich in Moskau meine Doktorarbeit. Für uns galten andere Regeln als für die einheimischen Studenten, die das ganze marxistisch-leninistische Programm durchlaufen mussten. Wir waren abgesondert. Die alltägliche kommunistische Praxis hat mich abgestossen, auch die kommunistische Philosophie. Einige meiner Mitstudenten haben die negativen Seiten nicht wahrnehmen wollen und blieben blind.

Ihre Doktorarbeit wurde trotz Ihrer Distanz zur offiziellen Doktrin akzeptiert.

Ich hatte einen grossen sowjetischen Historiker als Doktorvater, der mich respektierte, obwohl ich seine Weltanschauung nicht teilte. Niemand zwang mich zu einer bestimmten Überzeugung. Die Beurteilung der Doktorarbeiten verlief folgendermassen: Das zuständige Gremium versammelte sich in einem Raum und diskutierte öffentlich über jede Arbeit. Dann fand eine Geheimsitzung statt, anschliessend blieb ein Gremiumsmitglied nach dem andern allein im Raum und warf seinen Stimmzettel in die Urne. Am Schluss wurden die Stimmen gezählt, und die Arbeit war angenommen oder nicht.

In der europäischen Geschichtsschreibung hat die Französische Revolution einen zentralen Stellenwert. Was bedeutet sie in der arabischen Geschichtskultur?

Die Französische Revolution ist nicht nur ein Meilenstein in der französischen oder der europäischen Geschichte, sondern auch für uns, ja für die ganze Welt. Kein Studium der menschlichen Geschichte kommt ohne sie aus und ohne das, was sie im Denken der Menschen verändert hat.

Ist diese Bedeutung auch auf den europäischen Kolonialismus zurückzuführen?

Natürlich, wie jede Kolonialmacht versuchte auch die britische Kolonialmacht, ihr Herrschaftsgebiet politisch und kulturell zu prägen. Der irakische Staat ist durch die Briten entstanden, er ist ein Produkt ihrer Systeme und ihrer Disziplin. Bis zu unserer Unabhängigkeit 1958 wussten wir viel mehr über Grossbritannien und andere europäische Länder als über unsere Nachbarn.

Was gibt Ihnen in der jetzigen Lage Hoffnung?

Das wichtigste Element im neuen Irak ist die Rede- und Meinungsfreiheit. Mit ihr kann das irakische Volk seine alten Ziele erreichen. Aber man muss sie durchsetzen. Uns fehlt der Austausch mit ausländischen Intellektuellen, und wir haben Angst, in und an unserem Land Kritik zu äussern.



Haschim at-Tikriti

Der 1937 geborene Haschim at-Tikriti ist einer der renommiertesten irakischen Historiker. Nach dem Lizenziat an der Universität Bagdad 1957 studierte er in Moskau, wo er 1965 dissertierte. Seit 1988 ist er Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bagdad. 2004 verbrachte er ein Gastsemester an der Universität New York. Sein Forschungsgebiet ist die politische Geschichte der irakischen und arabischen Welt, besonders von deren Kolonialzeit. Haschim at-Tikriti hat sich auf Einladung einer Projektgruppe der Universität Basel um den Historiker Martin Schaffner und die Orientalistin Monika Winet Ende Juni in der Schweiz aufgehalten und an mehreren Universitäten über die Lage an der Universität Bagdad referiert. Das deutsch-arabisch geführte Gespräch wurde von Dolmetscher Ahmad Yakout übersetzt.

Kleine Chronologie des Irak

1918 Britannien besetzt den vom Osmanischen Reich verwalteten Irak und installiert eine Monarchie.

1932 Der Irak wird eine konstitutionelle Monarchie und als erster arabischer Staat Mitglied des Völkerbunds; Britannien reserviert sich eine militärische und ökonomische Sonderstellung.

1945 Beitritt zur Uno.

1948 Der Vertrag von Portsmouth schreibt die beherrschende britische Stellung für weitere zwanzig Jahre fest, worauf in Bagdad Unruhen beginnen.

1958 Die Republik Irak entsteht: Die Armee putscht gegen König Faisal II. und bringt ihn und seine Familie um, der Premierminister wird gelyncht. Parteien und Gewerkschaften werden zugelassen, doch unter dem Brigadegeneral Abd al-Karim Kasim entsteht ein Militärregime.

1959 kappt der Irak seine Beziehungen zum Westen und nähert sich der Sowjetunion an.

1961 Vollständige Unabhängigkeit.

1963 Putsch der Baath-Partei, Kasim wird exekutiert. Abd ar-Rahman Arif, kein Baath-Mitglied, erringt die Macht.

1968 Erneuter Putsch der Baath- Partei; General Ahmed Hasan al-Bakr erringt die Macht.

1979 Al-Bakr tritt zurück, Saddam Hussein übernimmt die Herrschaft und baut seine Diktatur auf.

1980 Beginn des ersten Golfkriegs (Irak greift Iran an).

1991 Beginn des zweiten Golfkriegs (USA und Alliierte befreien das vom Irak besetzte Kuweit).

2003 Beginn des dritten Golfkriegs: USA und Britannien greifen den Irak an und stürzen Saddam.