Wissenschaftsstandorte (4): Mikrokosmos Moskau

Die Moskauer Universität der Völkerfreundschaft wurde für BürgerInnen aus den sozialistischen «Bruderstaaten» gegründet. Heute machen den Studierenden hohe Lebenskosten und Rassismus zu schaffen.

«Jeden Morgen legte meine Zimmernachbarin splitternackt eine Schallplatte auf den Plattenspieler, zog eine riesige Büchse Kokosfett unter ihrem Bett hervor und begann sich im Rhythmus der afrikanischen Musik von Kopf bis Fuss einzusalben», erinnert sich die heute 54-jährige Alla Andrejewna Wischnjewskaja an ihre Mitbewohnerin im Wohnheim der Universität für Völkerfreundschaft in Moskau. «Das war 1966. Ich war damals achtzehn, kam aus einem wohl behüteten, völlig durchschnittlichen Moskauer Elternhaus. Ausländer hatte ich vorher keine gekannt, von Afrika wusste ich, wo es liegt. Meine Zimmernachbarin war unglaublich gross und unglaublich dick. Ich fürchtete mich schrecklich vor ihr», sagt Alla Andrejewna und lacht.

Auf ihre Anfrage, ob sie nicht vielleicht doch mit einer russischen Kommilitonin das Zimmer teilen dürfte, erhielt sie ein kategorisches «Njet!». Nur so, beschied man ihr, würde die Afrikanerin schnell Russisch lernen, Alla mehr von der Kultur Afrikas verstehen und damit die Völkerfreundschaft zwischen den beiden Heimatländern wachsen. «Es dauerte allerdings eine Weile, bis sich diese Freundschaft einstellte», erinnert sich Alla. Ihre Mitbewohnerin habe nämlich bestimmt, dass das Zimmer geteilt würde, und hängte ein Tuch zwischen Tür und Fenster. «Sie behielt für sich den hellen Teil. Ich konnte mich neben der Tür einnisten, wo ihre zahlreichen Freunde durchmarschierten, um bei ihr zu essen, wenn sie wieder einmal auf dem Bunsenbrenner einen Eintopf gekocht hatte, weil sie das Essen in der russischen Mensa so schrecklich fand.»

Anwälte, Minister, Terroristen

Generationen von Russinnen und Ausländern haben an der 1960 gegründeten Universität am Stadtrand im Süden Moskaus studiert. Der Terrorist Carlos war hier eingeschrieben, zahlreiche Minister, Generalstaatsanwälte von afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern paukten hier Medizin, Ingenieurwissenschaften oder Landwirtschaft. Die Sowjetunion liess es sich viel kosten, Studierende aus befreundeten Staaten auszubilden und ideologisch auf Kurs zu bringen. Die Universität, die bis 1993 zusätzlich zum heutigen Namen auch noch den des kongolesischen Revolutionärs Patrice Lumumba trug, gehört heute noch zu den besten Hochschulen Russlands; nach wie vor sind 3544 AusländerInnen an der Uni eingeschrieben. Von den 23402 Studenten und Doktorandinnen kommen allerdings nur 192 aus Europa und 7 aus Nordamerika. Der Grossteil stammt aus Asien (1377), Afrika (835), dem Nahen Osten (723) und Lateinamerika (358).

«Als die Universität gegründet wurde», sagt Prorektor Wiktor Fjodorowitsch Ponka in seinem Büro, das in einem der Wohnheime gleich neben dem Hauptgebäude untergebracht ist, «gab es zwei Welten, zwei Ideologien. Die Universität hatte die Unterstützung derjenigen Länder zum Ziel, die damals gerade ihre Unabhängigkeit erhalten haben. Seither hat sich die Welt verändert.» Der 45-jährige Ponka kam selber 1978 als Student aus der Ukraine zum Studium an die Uni. «Wir müssen keine Länder mehr unterstützen, sondern wollen heute jungen Menschen die Möglichkeit geben, eine gute Ausbildung zu bekommen. Egal, ob Ausländern oder Russen», sagt der Prorektor.

Die Uni sei aber trotzdem nicht eine wie alle andern. Der Name «Völkerfreundschaft» sei nicht historisch zu erklären, sondern nach wie vor aktuell: «Hier studieren Menschen aus 106 Ländern», sagt Ponka. «Die Universität ist eine Miniwelt. Auf dem Campus leben die Leute friedlich miteinander, und es spielt keine Rolle, an welchen Gott man glaubt, welche Hautfarbe man hat oder wie viel Geld.»

«Früher warst du ein Freund, wenn du die Ideologie teiltest. Heute, wenn du das nötige Kleingeld hast», sagt ein Student aus Vietnam sarkastisch, der seinen Namen auf keinen Fall in der Zeitung stehen haben will. Der Medizinstudent macht gerade Pause und trinkt Tee in einem der Cafés im Hauptgebäude. Noch ein Jahr, dann will er zurück in sein Land. «Ich weiss, dass das, was ich sage, nicht fair ist, denn die Ausbildung ist hervorragend, und ich habe hier Freunde fürs Leben gefunden.» Zu schaffen mache ihm aber, dass alles schnell teurer wird. Die Studiengebühren betragen je nach Studienfach 1500 bis 5000 Dollar pro Jahr, diese Kosten bleiben einigermassen stabil. Kaum zu finanzieren seien aber Ausgaben für Wohnen und Essen, die schnell stiegen.

Jean-Gabin Onzimba, ein Doktorand der Geschichte, rechnet vor. «Schon die durchschnittlich 3000 Dollar Studiengebühren pro Jahr sind für uns viel Geld», sagt der 34-Jährige aus Gabon. «Die Preise für die Zimmer in den Wohnheimen steigen unheimlich schnell. Noch vor ein paar Jahren wohnten wir für 800 Dollar pro Jahr in den Wohnheimen. Nun sind es schon 2000. Es gibt immer mehr Leute, die unter der Hand in den Wohnheimen leben, die gar keine Studenten sind, sondern arbeiten. Diese Leute können höhere Mieten bezahlen, das treibt die Preise in die Höhe.»

Die Leidtragenden seien die Studierenden, denn die Stipendien würden nicht so schnell angepasst, wie die Kosten stiegen. Jean-Gabin Onzimba unterrichtet nebenbei Französisch. Lukrativere Jobs ausserhalb der Uni, bei denen StudentInnen 100 bis 200 Dollar im Monat verdienen können, stehen nur Studierenden aus Russland offen. Ausländische Studierende dürfen von Gesetzes wegen nicht arbeiten. Viele von ihnen jobben aus Geldnot trotzdem, illegal und damit zu tiefen Löhnen.

Trotz allen Schwierigkeiten, dem Unterricht in russischer Sprache, dem harten langen Winter, den bürokratischen Hürden und der Willkür: Die Uni steht bei den AusländerInnen hoch im Kurs. Lange nicht alle, die hier studieren wollen, finden an der Uni einen Platz. Für den vierzigjährigen Schwarzafrikaner Alfred Kamuzora ist auch klar warum: «Wo auf der Welt bekommt man für das Geld eine so gute Ausbildung?», fragt er und gibt die Antwort gleich selbst: «Hier!»

«Elite des 21. Jahrhunderts»

Er ist gerade daran, im Hotel Dom Turistow eine Zweigstelle der Badr-Forte-Bank zu eröffnen. «Wer in Nachtclubs als Türsteher arbeitet, kann am nächsten Tag kein guter Student sein», sagt der promovierte Ökonom. Der Manager für Kundenbeziehungen der Badr-Forte-Bank weiss, wovon er spricht. Er kam 1990, ein Jahr vor dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, aus seinem Heimatland Tansania an die Uni, hat hier studiert und doktoriert.

«Ich habe meinen Chefs immer wieder von den Schwierigkeiten erzählt», sagt Kamuzora. In der Bank arbeiteten vor allem RussInnen, der oberste Chef sei Aserbaidschaner und habe für die Vorschläge von Kamuzora immer ein offenes Ohr. Die Bank unterhält ein Stipendienprogramm, das den Namen «Elite des 21. Jahrhunderts» trägt. Damit werden zurzeit rund fünfzig Studierende aus asiatischen und afrikanischen Entwicklungsländern unterstützt. «Unser Ziel ist es, denjenigen, die gut studieren und etwas erreichen wollen, finanziell unter die Arme zu greifen», erklärt Alfred Kamuzora die Idee hinter dem Programm.

Neben einem Kreditrahmen, der den Studierenden in Notfällen zur Verfügung steht, hat die Bank für die StudentInnen die Gebühren abgeschafft. Bei anderen Banken müssen sie bis zu fünfzig Dollar Gebühren bezahlen, wenn die Eltern Studiengebühren überweisen. Für fünfzig Dollar riskieren die ausländischen StudentInnen sogar, ins Stadtzentrum zu gehen - und unterwegs zusammengeschlagen zu werden, wie die beiden Inder, die Kamuzora erzählten, sie seien auf dem Weg zur Bank Opfer eines Angriffs von Skinheads geworden. «Deshalb baue ich jetzt die Zweigstelle auf, damit die Studenten nicht mehr ins Zentrum fahren müssen», sagt Kamuzora.

«Das Leben in Russland ist seit dem Ende der Sowjetunion schwieriger geworden. Als ich 1990 nach Moskau gekommen bin, getraute sich keiner, uns Schwarze anzufassen. Heute ist das ganz anders: Mach einen Schritt auf die Strasse, und du bist dran», sagt Kamuzora. «Das Leben ist auch für die Russen schwieriger geworden. Sie haben den Umbruch nicht verkraftet. Trotz allem ist es wichtig, dass junge Menschen aus Afrika und Asien nach Russland kommen, um eine gute Ausbildung zu erhalten. Wir mit unserem Programm haben uns zum Ziel gesetzt, ihnen das Leben hier erträglich zu machen.»

Seit Jahren nehmen die Übergriffe auf StudentInnen anderer Hautfarbe an der Uni zu. Sie getrauen sich nur noch in Gruppen oder in Begleitung von russischen Freunden aus dem Areal heraus. Skinheads passen die Studierenden auf dem Nachhauseweg ab. «Die Schläger sind oftmals noch nicht volljährig und können deshalb nach russischem Gesetz nicht bestraft werden», sagt Prorektor Ponka. Es kommt auch nur sehr selten zu Anzeigen, weil sich die Opfer vor der Miliz fürchten, die in Russland dem Gedankengut der Skinheads oft nahe steht. Von Behördenseite werden ausländerfeindliche Übergriffe gerne verharmlost. Der Brand eines Wohnheims der Universität, der im vergangenen November 36 Todesopfer gefordert hat, wurde von den Behörden schnell auf technische Gründe zurückgeführt. Viele ausländische StudentInnen sagen allerdings, es sei ein Anschlag. In der Vergangenheit hat es wiederholt Brandanschläge und Bombenalarme gegeben.

WG-Groove, unfreiwillig

Von aussen machen die Wohnheime, wo der Grossteil der ausländischen Studierenden lebt, einen völlig heruntergekommenen Eindruck. In den Fenstern hängt Wäsche zum Trocknen, die Scheiben sind mit Postern verklebt. Auf den Fenstersimsen Pflanzen, Kaffeebüchsen, Wasserkocher oder Bücherstapel. «Wir sind uns bewusst, dass die Wohnsituation absolut unbefriedigend ist», sagt Prorektor Ponka. Die Wohnheime sollen deshalb abgerissen und durch modernere Gebäude ersetzt werden, die genügend Platz bieten.

«Das wäre natürlich wunderbar!», sagt Wafaa Daoui aus Marokko. Sie teilt ein Zimmer mit einer Studentin aus Angola, obschon sie als Doktorandin eigentlich Anrecht auf ein eigenes Zimmer hätte. «Natürlich finde ich das nicht toll, so zu wohnen! Und ich hasse die Bürokratie hier, die Willkür macht mich krank», sagt sie. «Aber: Ich bin vor elf Jahren als Maturandin hierher gekommen. In einem Monat gehe ich als Doktorandin zurück. Ich habe eine Ausbildung bekommen, wie ich sie in Marokko nicht hätte bekommen können. Das Journalistikstudium haben meine Eltern bezahlt. Wäre ich nach dem Abschluss zurückgegangen, wären meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht sehr gut gewesen. Aber meine Eltern sagten mir, sie könnten mich nicht weiter unterstützen. Doch ich konnte bleiben, ich habe für mein Doktorat jedes Jahr ein Stipendium der Uni bekommen», sagt die 32-Jährige.

«Schau doch mal zum Fenster raus. Was siehst du da? Viele Russen haben keine Arbeit, ihnen sind die Werte abhanden gekommen, sie haben Angst vor der Zukunft. Ich kann nur sagen: Vielen Dank euch allen für meine super Ausbildung!»

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