Neuer SVP-Präsident: Braveheart aus Oberiberg

Nr. 11 –

Mit Marcel Dettling wird die SVP bald den wohl rechtesten Präsidenten ihrer Geschichte haben. Was sagt seine anstehende Wahl über Zustand und Entwicklung dieser Partei?

Marcel Dettling an einer SVP-Versammlung
Er wolle «Würde und Bürde» auf sich nehmen, sagt der 43-jährige Marcel Dettling. Ähnliches hat man aus der SVP auch schon gehört. Foto: Gian Ehrenzeller, Keystone

Es gibt Szenen, die rasch erkennen lassen, warum Marcel Dettling für die SVP ein Glücksfall sein soll, wie seine Parteifreund:innen sagen, zum Beispiel diese: An einem Mittwochnachmittag sitzt er im Bundeshaus mit der WOZ-Journalistin, später wird er ihr eine Tour durchs Haus geben. Er wird von seiner Ehrfurcht erzählen, wenn er die kunstvollen Gemälde und Schnitzereien sehe, von der «Würde», die so ein Amt als Parlamentarier mit sich bringe; wird seiner Freude Ausdruck verleihen, hier ein- und ausgehen zu dürfen.

Auf die Frage aber, was er tun würde, wenn er seine Sachen packen müsste und ab morgen nicht mehr im Bundeshaus agieren dürfte, reisst er seine Arme in die Luft und sagt: «Freiheit. Braveheart.» Im Hollywood-Blockbuster mit diesem Titel streift Mel Gibson als rachelüsterner Rebellenführer durch das mittelalterliche Schottland.

Die Lautstärke aufdrehen

Marcel Dettling, Bergbauer aus Oberiberg im Kanton Schwyz, dreifacher Vater, ist seit 2015 Nationalrat. Als «Toni Brunner 2.0» hat ihn sein Wegbegleiter, SVP-Nationalrat Franz Grüter, schon bezeichnet. Wieder so ein «Gmögiger» vom ganz rechten Parteirand. Nationalrat Andreas Glarner sagte im Rahmen jener Gerichtsverhandlung, bei der beschieden wurde, dass er rechtsextrem genannt werden dürfe, es gebe in seiner Partei noch einige rechts von ihm: Brunner etwa oder eben «den Dettling». Dettling wiederum sagt: Seine Frau sei noch rechter als er.

Am 23. März werden die SVP-Delegierten ihn zu ihrem neuen Präsidenten wählen – konkurrenzlos, ein Wunschkandidat. Vor vier Jahren hatte er noch abgesagt, nun meint man, das kollektive Aufatmen in den Parteireihen zu hören: Nach Marco Chiesa, dem studierten Ökonomen aus Lugano, kommt endlich wieder einer, der den Wähler:innen glaubwürdig vermitteln kann, woher die SVP zu kommen vorgibt – nicht vom Hörsaal, sondern vom Stall; nicht vom rechten Züriseeufer, sondern vom Acker.

«Dettling ist einer, der anpackt», schwärmt Altständerat Peter Föhn, Förderer Dettlings und wichtige Figur der Schwyzer SVP. Anpacken, das heisst: die Kriminelle-Ausländer-Schallplatte nicht nur in Dauerschleife spielen, sondern auch die Lautstärke aufdrehen. Dettling verlangt einen generellen Aufnahmestopp für Asylsuchende und will dazu gleich die Genfer Flüchtlingskonvention aufkündigen. Eine drastische Forderung, selbst für einen SVP-Nationalrat. «Wir müssen vorwärtsmachen», sagt er an diesem Mittwochnachmittag im Bundeshaus. «Wir dürfen die Schweizer doch nicht der gnadenlosen Kriminalitätswelle aussetzen, in der wir drinstecken.»

An vorderster Front kämpft Dettling gegen ein Bundesasylzentrum im Kanton Schwyz. Im Februar sagte er an einer Informationsveranstaltung, über die der «Bote der Urschweiz» berichtete, die Asylzentren gehörten in die Städte, dort würde man sie ja auch wollen. «Und wir schicken ihnen gleich noch zwei Wölfe hinterher», sagte Dettling. Szenenapplaus.

Wer von den reichen Schwyzer Gemeinden am Zürichsee in Richtung Süden fährt, den Mythengipfeln entgegen, dann Einsiedeln passiert, den spiegelglatten Sihlsee überquert und durch Euthal fährt, kommt nach Unter- und wenige Minuten später Oberiberg, rund 800 Einwohner:innen stark. Dazwischen, direkt an der Hauptstrasse und trotzdem allein auf weiter Flur, der Hof der Dettlings. Alle, die in Oberiberg Ski fahren, würden hier durchkommen, sagt Dettling, «wir könnten Zoll erheben».

Der Ursprung der Welt

Oberiberg wurde früh als Kurort entdeckt, der erst dritte Skilift der Schweiz wurde hier gebaut, in den sechziger Jahren verbrachte die Zürcher Bohème ihre Wochenenden im Dorf. Eine Beiz reihte sich an die nächste, ein Hotel sich ans andere. In einem wilden Streit um die Durchleitungsrechte eines Skilifts kippten die Bauern einst Gülle und Mist aufs Lifttrassee. In Oberiberg lief was, es war ein Dorf von Welt, kein verschlafenes Kaff.

Diese Zeiten sind vorbei. Dettlings Zuneigung zu Oberiberg ist aber ohnehin in einem anderen Jahrhundert verankert. Im Gespräch sagt er über seine Heimat: «Ich hatte vor der Haustüre den Ursprung der Eidgenossenschaft.»

Es ist diese «Nähe zur Geschichte», die Dettling gern betont: den Mythos der gegen die fremden Vögte rebellierenden Schwyzer, «die DNA» der Innerschweizer, wie er sagt. Die Urkantone werden in dieser eidgenössischen Mythenschwelgerei zu einem homogenen Kuhfladen. Dabei ist kein Kanton so ungleich wie Schwyz: hier die ländlichen, nach wie vor agrarisch geprägten, von Transferleistungen abhängigen Dörfer – und dort die reichen, Steuerdumping betreibenden urbanisierten Gemeinden an den Ufern von Zürich- und Vierwaldstättersee.

Vielleicht symbolisiert kein Kanton die Geld-und-Gülle-Allianz der SVP mit Bauern- und Wirtschaftsverbänden so gut wie Schwyz. Und vielleicht ist auch keine Partei so ungleich wie die SVP. Im Nationalratssaal sitzt Marcel Dettling, der Bergbauer, neben dem studierten Ökonomen Thomas Aeschi und zwei Sitze neben Milliardärin Magdalena Martullo-Blocher. Selbst Dettling spricht von einem «Spannungsfeld», in dem sich die Partei bewege. Es sei «eine Herkulesaufgabe», die unterschiedlichen Meinungen zu vereinen. Aber in den Hauptlinien – «EU, Unabhängigkeit, kriminelle Ausländer, tiefe Steuern und Abgaben» – sei man sich «absolut einig». Angesprochen auf die Klassenunterschiede in der SVP, sagt Altbundesparlamentarier Föhn, die Unterschiede seien egal, «denken tun sie ja genau gleich».

Nichts hält dieses Denken so verlässlich zusammen wie Ideologie und Folklore. Dettlings Zeitrechnung beginnt 1291. 1991, also 700 Jahre später, studiert er als Primarschüler den Gründungsmythos der Schweiz für ein Theaterstück ein – und ist beeindruckt. Heute sagt Dettling, es sei doch Wahnsinn, dass man in der Schule mehr über Dinosaurier lerne als darüber, «woher wir kommen». Dann erzählt er vom Marchenstreit, der Auseinandersetzung zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Landsleuten von Schwyz. Erzählt, wie Kaiser Leopold, «der fremde Kaiserfötzel», gesagt habe, er schenke dieses Land dem Kloster Einsiedeln. «Und dann haben natürlich die Schwyzer gesagt: Spinnt der überhaupt!» Die Bezüge zur Gegenwart zieht Dettling abenteuerlich und direkt. Das sei wie mit der EU. «Ich meine, wenn nicht wir für unsere Freiheit kämpfen als Schwyzer, wer dann? Bei uns liegt der Freiheitsbrief von 1291.»

Immer wieder Schwyz

Dettling wächst in einfachen Verhältnissen auf, seine Mutter stirbt, als er zwölf Jahre alt ist, dem ältesten Sohn von vier Geschwistern fällt viel Verantwortung zu. Dettling absolviert eine Landwirtschaftslehre, ein Jahr davon in der Westschweiz, ein Jahr in Rapperswil-Jona. Er kommt herum. Auch sonst ist er umtriebig, gründet einen Jungzüchterverein mit, und als Christoph Blocher mit der SVP zu deren Siegeszug in den katholischen Gebieten der Urschweiz ansetzt, besucht Dettling mit einem Freund dessen Veranstaltungen.

Es ist ein Erweckungsmoment, Blocher und die EWR-Abstimmung 1992 politisieren den jugendlichen Dettling. «Du hast einfach gesehen, dass einer allein sehr viel auf sich nimmt», sagt er, und es klingt, als würde er auch über sich selbst sprechen. Später ist er dabei, als 1998 die Junge SVP Schwyz in Rothenthurm gegründet wird. Und mit gerade einmal 21 Jahren übernimmt er den Bauernhof vom Vater, der fortan als Experte für Braunvieh durch die ganze Schweiz reist.

Mit 27 wird Dettling in den Kantonsrat gewählt, wo er vor allem dadurch auffällt, dass er sich mit dem progressiven Abt des Klosters Einsiedeln anlegt. 2015 gelingt ihm überraschend der Sprung nach Bern, gleichzeitig wird er Vorstand der Bauernvereinigung des Kantons Schwyz und Präsident des Zentralschweizer Bauernbunds. In Bern hat er wichtige Förderer, wie er selbst sagt, der damalige Parteipräsident Albert Rösti habe ihn rasch «ins Team geholt».

Marcel Dettling ist kein Parolenverkäufer. Er glaubt, was er sagt. Und Dettling ist schlau, er beherrscht das rhetorische Kernmanöver der SVP perfekt: die Mehrheitsposition als oppositionell zu verkaufen. «Ich glaube, ich bin schon ein typischer Innerschweizer», sagt Dettling. «So ‹chli› der Rebell, der für die Freiheit kämpft, für die Eigenständigkeit, sich nicht gern dreinreden lässt.» Bern, das sei für die Innerschweizer weit weg. «Wir wollen für uns schauen», so Dettling. Die Widersprüche, die mit dieser Haltung und einem Nationalratsmandat einhergehen, saugt er einfach auf: «Das Leben ist voller Widersprüche.» Braveheart im Nationalratssaal.

Als Dettling im Anschluss ans Gespräch durchs Bundeshaus führt, wird er mit «Sali, Chef» gegrüsst. Als Dettling gerade die Wendeltreppe in den oberen Stock hochsteigt, sagt ein anderer: «Im Aufstieg, hä?» Schulterklopfen hie und da. Dettling bewegt sich durchs verwinkelte Gebäude, als müsste er im Eiltempo dessen Räume vermessen. Seine Karriere beschreibt er als Abfolge von Zufällen; er sei immer näher am Aufhören als am Aufsteigen gewesen. Es ist klar, wem er damit gefällt. Für die libertären Rechten, die sich gern über «die in Bern oben» beschweren, ist wohl keiner so wählbar wie einer, der so auftritt wie er – so als habe er eher unfreiwillig die «Würde und Bürde» auf sich genommen, die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Dettling unterstützte im letzten Herbst bei den Wahlen auch Listenverbindungen mit Pandemiemassnahmengegner:innen, die in Schwyz besonders erfolgreich kandidierten.

Schwyz, immer wieder Schwyz. Vermutlich hat der Kanton mit Marcel Dettling, seinem libertären Rechtsdrall und seiner Folklorebolzerei wirklich einen Glücksfall für die SVP hervorgebracht. Denn die Risse innerhalb der Partei treten derzeit deutlich zutage. Die Bäuer:innen etwa sind alles andere als einig, was die Bekämpfung der Klimaerhitzung betrifft; der Bauernverband hat letztes Jahr die Ja-Parole zum Klimaschutzgesetz herausgegeben, sehr zum Ärger der SVP-Spitze. In der Fraktion sorgt Bundesrat Albert Röstis Energie-Mantelerlass für Unruhe, viele sind dagegen, inklusive Dettling. Und die AHV-Abstimmung hat einen deutlichen Graben zwischen der Wähler:innenschaft und der Parteielite offengelegt. Dettling wurde gerufen, die Unterschiede wegzuackern. Aber schafft er das? Reicht das Beschwören gemeinsamer Feinde im Inneren und Äusseren für eine Partei, die auf die Herausforderungen der Gegenwart keine Lösungen hat?

Parteileitung vor Parteibasis

Man solle jetzt nicht zu fest auf dem Ergebnis zur AHV-Abstimmung rumtrampeln, findet Dettling. Seine Devise ist offensichtlich: Parteileitung vor Parteibasis, Parteilinie vor Wähler:innenwillen. Man könne sich nicht ständig überlegen, was die Basis denke, das sei «so ein bisschen CVP-Zeug, die wollen immer die Guten sein». Und im Unterschied zur FDP, die eine Elite bediene, sei die SVP eine Volkspartei. Verschiedene Positionen hätten darin Platz.

Gegen innen ist Differenzierung also erwünscht. Gegen aussen: nicht so sehr. Für Dettling sind Rechte «normaldenkend», das schrieb er in einem Kommentar im «Boten der Urschweiz», und das macht er auch im Gespräch deutlich. Ausländer:innen, die arbeiten und sich integrieren würden, hätten es «voll verdient, hier zu sein», sagt der designierte SVP-Präsident irgendwann im Gespräch – hingegen gebe es da ein paar Schweizer, die man eher ausschaffen solle.

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Kommentare

Kommentar von felix.schweiter

Di., 19.03.2024 - 14:39

Lustig ist ja, dass die Dauerbeschwörung der freiheitsliebenden alten Eidgenossen in ihrem „Kampf gegen fremde Richter und Vögte“ historisch gesehen das genaue Gegenteil der Totalblockade gegen die EU bedeutet: Die Innerschweizer hatten damit, dass sie die Gotthardroute als direkte Verbindung des deutschen und des römischen Teils des Reiches garantierten, 1231/1240 die Reichsunmittelbarkeit in einem Freibrief von Kaiser Friedrich II. erhalten. Sie waren also direkt dem Kaiser unterstellt, was die benachbarte Fürstenfamilie von Habsburg im Aargau nicht akzeptieren wollte. Diese trachtete vielmehr danach, die Kontrolle über die Ost- und Zentralschweiz, die sie als ihre Stammlande betrachtete, zu erlangen oder zu bewahren. Die Mutter Rudolfs I. von Habsburg, der 1273 der erste deutsch-römische König des Hauses Habsburg wurde, war Heilwig, Gräfin von Kyburg, eine Zürcher Unterländerin. Die Innerschweizer wehrten sich also gegen die Übergriffe einer reichen Familie aus der Nachbarschaft und vertrauten dabei auf den Schutz des Kaisers. Auf heute übertragen bedeutete dies, dass wir freiheitsliebende Schweizer:innen uns vor den Übergriffen rechtsextremer Schweizer Millionär:innen schützen, indem wir uns mit der EU verbünden.