Wetterphänomen El Niño : Jahrhundertfluten zu Weihnachten

Nr. 51 –

Trockenheit in Australien, Überschwemmungen in Somalia: Das Wetterphänomen El Niño hat weltweit dramatische Folgen. Dabei lässt es sich eigentlich gut vorhersagen.

«Wir können uns an Extremwetter anpassen», sagt der Umweltphysiker Nicolas Gruber von der ETH Zürich: «Wir müssen uns anpassen.»

Bereits im Sommer, als die Ankunft von El Niño bestätigt wurde, sagte der Chef der Weltorganisation für Meteorologie, Petteri Taalas: Die Voraussage eines El Niño sei ein Signal an die Regierungen auf der ganzen Welt, Vorbereitungen zu treffen, um die Auswirkungen auf Gesundheit, Ökosysteme und Volkswirtschaften zu begrenzen.

Das Christkind in Peru

Das Wetterphänomen El Niño tritt immer wieder auf, alle paar Jahre, in unregelmässigen Abständen. Es dauert in der Regel neun bis zwölf Monate – am stärksten sind die Auswirkungen von November bis Januar. Entscheidend dafür sind die sogenannten Passatwinde, die in «gewöhnlichen» Jahren konstant über dem Pazifik wehen. In einer El-Niño-Phase aber schwächeln diese Winde – oder brechen sogar ganz ab. Das führt zu einer Kettenreaktion: Das ursprünglich durch die Passatwinde getriebene warme Oberflächenwasser vor Indonesien und Ostaustralien schwappt Richtung Südamerika und erwärmt dort den Ozean – mit Auswirkungen auf das Klima weltweit.

Benannt ist das Phänomen nach dem Christkind. Der Name stammt von Fischer:innen in Peru, die den Temperaturanstieg des Meers jeweils in der Weihnachtszeit bemerkten. Als Folge der Wassererwärmung ging der Fischfang in Peru drastisch zurück. Derzeit kommt zu El Niño noch ein zweites Ereignis hinzu: der Indischer-Ozean-Dipol, eine natürliche Schwankung der dortigen Meerestemperatur. Nicolas Gruber von der ETH nennt den Dipol eine «kleinere Version» des El Niño. «Derzeit spielt er mit El Niño zusammen und verstärkt seine Auswirkungen.»

Gemeinsam lösen die beiden klimatischen Ereignisse in Ostafrika sintflutartige Regenfälle, Sturzfluten und Überschwemmungen aus. In Kenia, Äthiopien, Tansania und Somalia kamen diesen Herbst schon mehr als 350 Personen ums Leben. Somalia trifft es am stärksten: Rund 2,4 Millionen Somalis sind dem Extremwetter ausgesetzt. Die somalische Regierung hat den nationalen Notstand ausgerufen, die Uno beschreibt die Wasserströme als «Jahrhundertfluten».

Was in Ostafrika Niederschlag auslöst, führt Tausende Kilometer entfernt zu vermehrter Trockenheit: Australien rüstet sich für einen Sommer der Extreme mit enorm erhöhtem Risiko für Buschbrände. Die diesjährige Wald- und Buschbrandsaison, warnen Expert:innen, könnte die heftigste der letzten drei Jahre werden. «Wir sind noch ganz am Anfang der Feuersaison, und seit Oktoberbeginn hatten wir schon Hunderte Feuer», sagt etwa der westaustralische Minister für Notfalldienste, Stephen Dawson.

Ob der Klimawandel direkte Auswirkungen auf die Dynamik von El Niño hat, ist in der Forschung ein umstrittenes Thema. «Es gibt gute Argumente dafür, dass es in Zukunft mehr von den stärkeren El Niños geben wird», sagt dazu Nicolas Gruber. «Aber es gibt auch noch viele grosse Fragezeichen.» Denn neben der Erderwärmung würden noch weitere hochgradig komplexe Aspekte in die El-Niño-Dynamik hineinspielen, so Gruber.

Immer extremere Wetterereignisse

Einig sei sich die Forschung allerdings, dass die Folgen von El Niño, Klimawandel und Dipol zusammenspielten, «was zu stärkeren Extremereignissen führt», wie Gruber erklärt. So verstärken El Niño und Dipol im Norden Australiens die ohnehin bestehende Trockenheit. Und in Somalia treffen die jetzigen Jahrhundertfluten das Land, während es sich von der schwersten Dürre seit vierzig Jahren zu erholen versucht: Von 2020 bis 2023 fielen zuletzt fünf Regenzeiten aus.

Nicolas Gruber betont, dass die Menschen den Wetterauswirkungen trotz der bestehenden Unsicherheiten nicht schutzlos ausgeliefert seien. Was Fischer:innen in Peru schon lange können, kann auch die moderne Klimawissenschaft: das Auftreten des Phänomens frühzeitig erkennen und Prognosen abgeben. Das ermögliche den betroffenen Regionen, sich darauf vorzubereiten und sich anzupassen. «El-Niño-Prognosen sind für Menschen in verschiedenen Weltregionen extrem wichtig», so Gruber.

Die wiederkehrenden El-Niño-Phasen zeigen aber auch, wie verschieden die Möglichkeiten einzelner Staaten sind, wirkungsvolle Schutzmassnahmen zu ergreifen. Die australischen Behörden treffen weitreichende Vorbereitungen. Sie gehen davon aus, dass der diesjährige Sommer daher nicht so schlimm sein werde wie der «schwarze Sommer» 2019/20. Damals hatten viele ausser Kontrolle geratene Brände im Land enorme Schäden angerichtet und für Millionen Tiere den Tod bedeutet.

Somalia hingegen hatte keine Chance, sich auf die Fluten vorzubereiten. Die Bevölkerung ist damit beschäftigt, die Folgen der vergangenen Dürre zu bewältigen. Ganze Rinder- und Kamelherden wurden dahingerafft, viele nomadische Gemeinschaften haben ihre Lebensgrundlage verloren. Zudem befindet sich das Land seit Beginn des Bürgerkriegs vor dreissig Jahren in einer Krise. Entsprechend fehlen Ressourcen, um sich gegen klimatische Extremereignisse zu rüsten  – dies, obwohl das Land geografisch besonders exponiert ist.

«Die Überschwemmungen, die direkt auf die Dürre folgen, wirken wie ein unablässiges Bombardement von Klimaschocks», sagt Laura Turner vom Uno-Welternährungsprogramm (WFP) für Somalia in einem Statement Anfang Dezember. Das WFP warnt angesichts der schweren Überschwemmungen vor einer Hungersnot in der Region. «Ich fürchte, das Schlimmste kommt erst noch», konstatiert ihr Kollege Michael Dunford, WFP-Regionaldirektor für Ostafrika.