Erwachet!: Die Leerstelle

Nr. 46 –

Michelle Steinbeck wird zur Fledermaus

Im Philosophiestudium haben wir mal ein Buch gelesen mit dem Titel «What Is It Like to Be a Bat?». Darin stellt der Philosoph Thomas Nagel fest, dass wir Menschen keine Vorstellung davon haben können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein – ebenso wenig wie sich Menschen ohne Kinder vorstellen können, wie es sich anfühlt, Eltern zu sein.

Was ein Baby in meinem Leben als Autorin verändern respektive verunmöglichen würde, konnte ich mir dagegen leicht ausmalen: Stundenlang ununterbrochenes Schreiben, dieses rauschhafte Sich-selbst-Vergessen im Flow? Einsame Monate in Schreibresidenzen für neue Perspektiven, Musse und vollkommene Konzentration? Wochenlanges Touren in überfüllten, verspäteten Zügen der Deutschen Bahn?

Als ich mich entschied, ein Kind zu bekommen, fürchtete ich deshalb besonders, Leuten, mit denen ich arbeite, davon zu erzählen: Nach meinen eigenen Massstäben müssten sie mich als markttaugliche Autorin eigentlich abschreiben. Natürlich kannte ich grandiose Autorinnen, die Mütter waren. Aber wie? Mich umgab eine diffuse Angst, überhaupt nicht mehr schreiben zu können, komplett eingenommen zu werden, meine Identität zu verlieren. Ich konnte mir noch so sehr einreden, dass Schreiben mich fast mein ganzes Leben lang begleitet hat, dass es mich kaum in dieser alles verändernden Phase im Stich lassen würde – eine lautere Stimme höhnte: Was weisst du schon? Du wirst eine Fledermaus!

Während ich mich also transformiere, lese ich Julie Phillips’ Buch über Kreativität, Mutterschaft und das «Mind-Baby Problem». Sie versammelt darin Biografien von berühmten Künstlerinnen mit Kindern. So versucht sie, herauszufinden, «wie Mutterschaft plus Kreativität aussieht» und was es bedeutet, nicht in einem «Zimmer für sich allein», sondern in einem geteilten Raum kreativ zu arbeiten. Dem Bild von Kunstschaffenden als einsamen Seelen im Turm stellt sie Autorinnen gegenüber, die im Park auf dem Kinderwagen schreiben, sich neben dem Kochherd Notizen machen oder auf dem Weg zur Arbeit einen Plot skizzieren. «Hier ist der Akt des Schreibens nicht kontinuierlich, sondern provisorisch, der Unterbrechung unterworfen – und trotzdem kommen die Worte, und die Arbeit wird erledigt.»

Dazu umkreist Phillips, was sie «die Leerstelle» nennt: den Punkt, an dem Mutterschaft und Kreativität zusammenkommen und der laut ihren Recherchen keine Verbindung der Identitäten, sondern vielmehr eine unmögliche Position, eine Art schwarzes Loch zu sein scheint: «Wenn ich die Arbeit betrachtete, verschwand die Mutterschaft und umgekehrt.» Während ihrer «Erforschung mütterlicher Subjektivität» findet sie zwar einzelne Erzählungen, aber kein Muster, auf das sie eine «Theorie der Mutterschaft» gründen könnte.

Schliesslich geht ihr auf, dass es wohl gerade die Unterbrechungen und Störungen sind, die «mütterliche Kreativität» auszeichnen. Das und eine tiefgreifende Veränderung, die viele Autorinnen beschreiben: von einem «neuen Zustand» ist die Rede, von veränderten Sichtweisen. Mutterschaft, so Phillips, stösst dich aus dem Zentrum deines Lebens: «Dir bleibt nur, dich wiederzufinden und deine Arbeit neu anzugehen.» Eine Autorin spricht gar von der Vernichtung ihres Ichs. Aber: «Dieses andere Ich war sowieso nur eine Fiktion.» Für mich als angehende Fledermaus klingt das erst mal wenig versichernd. Dafür ziemlich aufregend.

Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie empfiehlt «The Baby on the Fire Escape» von Julie Phillips.