Von oben herab: Hopp und ex

Nr. 41 –

Stefan Gärtner über die richtigen Fragen

Früher bin ich oft auf der Autobahn zwischen Mainz und Frankfurt unterwegs gewesen, und jemand hatte auf eine Brücke «Du stehst nicht im Stau – Du bist der Stau» gesprüht, und wenn ich hier oder andernorts über «Overtourism» schreibe, tue ich das als jemand, der selbst manchmal Tourist ist. Fortschritt ist nämlich, wenn alle dürfen, und die Kehrseite ist, dass es dann voll wird. «Anstehen für das Erinnerungsfoto: In Iseltwald am Brienzersee ist das seit diesem Frühling Normalität», berichtet «Der Bund» aus dem Berner Oberland, wo die «schiere Menge der Touristen» aus aller Welt für «Konflikte mit Einheimischen» sorge und «Massnahmen nötig» mache: «Wirken sie?»

Gute Frage, falsche Frage, denn die einzige Massnahme, die gegen Übertourismus wirkt, ist, ihn zu unterbinden. Im Ostblock wurde der Urlaub früher zugeteilt: Ostsee, Harz, Balaton, und wer einen Platz in einem Hotel bekam, freute sich. Heute können zwar längst nicht alle überallhin, aber doch sehr viele, und sicher ist es demokratisch, wenn möglichst viele vieles können. Aber es ist auch desaströs. Der Schriftsteller Max Goldt, von dem ich glaube, dass er gar keinen Führerschein hat, hat einmal die Überlegung angestellt, dass es die Umweltprobleme, die das Auto verursacht, gar nicht gäbe, wenn das Autofahren so teuer geblieben wäre wie vor hundert Jahren. Was die Welt in den Ruin treibt, ist ja nicht der Konsum; es ist der Massenkonsum, und das ist – schon klar – ein sehr gefährliches Argument, allerdings bloss unter kapitalistischen Vorzeichen, wie die Kritik an der realsozialistischen Mangelwirtschaft plausibel nur unter der Voraussetzung ist, ein schönes Leben sei, wenn immer alles zur Verfügung steht. Hermann L. Gremliza hat, als die Mauer gefallen war, rhetorisch gefragt, ob sie es im Osten nicht warm gehabt hätten und satt zu essen und ob es denn am Lebensnotwendigen gefehlt habe in einem Land, dessen Lebensstandard höher gewesen sei als in neunzig Prozent des Rests der Welt.

Dem westlich guten Leben wird der verehrte Kollege trotzdem nicht abgeneigt gewesen sein, und ich bin es natürlich genauso wenig. Was den Tourismus anlangt, kommt mir aber meine Bequemlichkeit zupass: Ich würde nie vier Stunden vorm Louvre anstehen, um die «Mona Lisa» zu filmen, und ich würde nie aus New York oder Seoul nach Iseltwald BE reisen, um ein Selfie auf dem Bootssteg zu machen, nur weil darauf ein paar Szenen einer koreanischen Netflix-Serie spielen, deren Hauptdarsteller auch privat schon da war. Und wegen derlei, glauben wir dem «Bund», fliegen Menschen um die halbe Welt, und vielleicht müssen wir präzisieren, dass nicht die Massen das Problem sind, auch nicht die blöden Massen, sondern die von Konsumismus und Konformität verblödeten, denen man beigebracht hat, dass Leben ist, wenn man sich ins Selfie hält, am besten irgendwo, wo es auch alle anderen tun.

Kapitalismus freilich auch dies, und da der, wie es aussieht, so ewig ist, wie es die Klimaapokalypse zulassen wird, wärs eine ja auch in dieser Hinsicht gebotene Massnahme, das Fliegen wieder zu etwas zu machen, was nicht so zur Verfügung steht wie Schnürsenkel oder ein Käsebrot. Das kann den Reichen dann zwar wieder mal egal sein, aber denen kann sowieso immer alles egal sein, und immerhin subventioniere ich das steuerbefreite Flugbenzin, damit Leute sich ihren Fotospeicher mit Selbstporträts auf dem Iseltwalder Bootssteg vollräumen können. Gäbe es weniger von dem, was ja nicht Über-, sondern Blödsinntourismus als letzten Endes Demütigung ist, müsste sich auch keine vom Fremdenverkehr lebende Gemeinde lächerlich machen, die erst heulte, weil Corona die Betten leer stehen liess, und sich jetzt beschwert, dass am Brienzersee die Abfallkörbe überlaufen.

Aber apropos Netflix: Netflix siezt mich. Vielen Dank.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.