Paraclimbing: Aus dem Rollstuhl an die Kletterwand

Nr. 33 –

Letzte Woche fanden in Bern die Paraclimbing-Weltmeisterschaften statt. In zehn Kategorien traten Athlet:innen an – einer von ihnen war der St. Galler Andreas Suhner.

Andreas Suhner
«Ein schönes Gefühl», sagt Andreas Suhner über die Zugehörigkeit im Parasport. Auch wenn sie zur Flucht vor der Realität verleiten könne.

Als Andreas Suhner nach Bern fährt, weiss er noch nicht, ob er behindert genug ist: ob seine Beinmuskeln schwach genug sind und ob ihn seine Spastik stark genug einschränkt, um sich an der Weltmeisterschaft im Klettern mit anderen Menschen mit Behinderungen zu messen. Suhner nimmt es mit Humor.

Vor über zwei Jahren ist der 36-jährige Sozialpädagoge aus St. Gallen beim Felsklettern gestürzt. Er hatte das Seil falsch geknotet – «ich kann mir noch heute nicht erklären, warum» –, lehnte sich nach hinten und fiel zwanzig Meter in die Tiefe. Schienbein gespalten, Becken gebrochen, ein Brustwirbel ist zersplittert.

Eine inkomplette Querschnittlähmung: Der zersplitterte Brustwirbel quetschte das Rückenmark, aber zerstörte es nicht. Drei Monate nach dem Sturz konnte Andreas Suhner erstmals wieder stehen, nach fünf Monaten wieder kurze Strecken gehen, nach sechs Monaten konnte er schliesslich ohne Rollstuhl vom Paraplegiker-Zentrum nach Hause fahren. «In der Reha kämpfte ich dafür, wieder klettern zu können», sagt Suhner. «Jetzt hoffe ich, dass ich an der Paraclimbing-WM starten darf.»

Erst einmal vorklettern

Die letzte Woche in Bern ausgetragenen «Climbing & Paraclimbing»-Weltmeisterschaften (vgl. «Fankultur für Fortgeschrittene») waren ein Schaufenster nicht nur für den Kletter-, sondern auch für den Parasport: ein Treffen von Gleichgesinnten und eine Sensibilisierungskampagne für andersartige Körper – aber auch ein sportlicher Wettkampf um Zentimeter und Goldmedaillen.

Beim Paraclimbing stehen Menschen aus dem Rollstuhl auf und klettern direkt eine Wand hoch. Andere Teilnehmer:innen sind blind. Wenn sie zu klettern beginnen, wird es in der Halle still, damit sie die Anweisungen des Coaches über das Headset hören können.

Jede Behinderung ist anders. Um die Wettkämpfe so fair und vergleichbar wie möglich zu gestalten, klettern die Athletinnen und Athleten pro Geschlecht in zehn verschiedenen Kategorien. Dafür muss die Behinderung eingestuft, klassifiziert werden. Wie blind ist die Sportlerin? Wie kurz der Armstumpf? Wie stark schränkt die Lähmung ein?

Im Alltag sieht man Andreas Suhner kaum etwas an. Nur wenn er Shorts trägt, zeigt sich, wie dünn seine Muskeln sind. Steht er aber an der Kletterwand auf einem kleinen Tritt, lässt die Spastik seine Beine schlottern. Suhner will in der Klassifikation RP3 starten: leichte Beeinträchtigung in Reichweite (Range) und Kraft (Power). Seine Konkurrenten wären Athleten mit Multipler Sklerose oder – so wie er selbst – mit inkompletter Paraplegie.

Während Fans in der Halle die Klettersuperstars Janja Garnbret und Adam Ondra anfeuern, muss Andreas Suhner in einem Zimmerchen nebenan einer Ärztin beweisen, wie schwach seine Muskeln sind, und daraufhin vorklettern, damit sie seine Spastik einschätzen kann.

Er ist nervös. Je näher der Wettkampf kommt, desto mehr will auch er Teil davon sein. Schon beim Aufwärmen fürs Vorklettern schüttelt es seine Beine so stark, dass die Füsse von den Tritten rutschen. Die Ärzt:innen haben genug gesehen: Er darf mitmachen.

Was heisst denn schon «fair»?

Suhner weiss, dass andere RP3-Athleten stärker eingeschränkt sind als er. «Und dass das Paraclimbing für einige eine grössere Bedeutung hat als für mich», sagt er. Seine Verletzung wird nach und nach heilen, andere leben ein Leben lang mit ihrer Behinderung. Die bürokratischen, physischen und sozialen Hindernisse, die Menschen mit Beeinträchtigungen im Alltag überwinden müssen, sind für Aussenstehende oft unsichtbar. «Zu Hause bist du mit einer körperlichen Einschränkung meist die Ausnahme, hier bist du plötzlich Normalität. Das ist ein schönes Gefühl, eine Zugehörigkeit – einerseits. Andererseits kannst du hier auch sehr einfach vor der Realität flüchten.» Der Parasport macht andere Körper sichtbar – und die Welt damit vielleicht etwas gerechter.

Was nichts daran ändert, dass sich auch im Parasport Fragen der Fairness stellen: Dass er um dieselben Finalplätze wie Athlet:innen mit stärkeren Einschränkungen antritt – das bereite ihm schon ein schlechtes Gewissen, zumindest ein bisschen, sagt Suhner. Denn nur weil man die Behinderungen in viele Kategorien klassifiziert, bedeutet das noch nicht, dass der Wettkampf fair ist.

Im Regelsport, bei den Athlet:innen ohne Behinderung, klettern Frauen gegen Frauen und Männer gegen Männer. Auf körperliche Unterschiede wird keine Rücksicht genommen. So hatte die Japanerin Ai Mori mit ihren 154 Zentimetern Körpergrösse kaum eine Chance im WM-Boulderfinal. Ihre Konkurrentinnen waren grösser und konnten Griffe klettern, die für Mori schlicht nicht erreichbar waren. Ist das fair?

Im Parasport, wo jede Behinderung einzigartig ist, müsste eigentlich jede:r Athlet:in eine eigene Kategorie bilden. Doch auch Paraclimbing ist Sportklettern. Dass die Teilnehmer:innen um die Goldmedaille kämpfen können, bedingt Vergleichbarkeit – und Konkurrenz.

Die Klassifizierung in zehn Kategorien ist ein Kompromiss. Ganz fair ist Sport nie. Amruta Wyssmann zum Beispiel, die Schweizer Parakletterin mit einem Armstumpf, der kurz unter dem Ellbogen aufhört, tritt gegen Athletinnen mit längerem Stumpf an – sie haben mehr Reichweite und mehr Griffmöglichkeiten. Roland Paillex, der fast blinde Schweizer Parakletterer, muss mit Augenbinde gegen komplett Blinde antreten, dabei hat er noch einen kleinen Sehrest.

«Kletterst du gegen Athleten, die stärker eingeschränkt sind als du, hast du Vorteile», sagt Andreas Suhner, «kletterst du gegen Menschen mit weniger Behinderung, kann das ein Frust sein.» Der Umgang mit dieser Unterschiedlichkeit braucht – besonders im Wettkampfsport, wo es um Zentimeter und Sekunden geht – viel Grösse.

Suhner klettert in der Qualifikation zwei Routen. In der blauen fällt er nach neun Zügen, in der violett-gelben nach fünfzehn. Seine Konkurrenten kommen mehr als doppelt so weit. Für den Final qualifiziert er sich damit nicht. Bevor er abtritt, winkt er ins Publikum und verbeugt sich kurz. Mit seiner Kletterleistung ist er nicht zufrieden. Mit allem anderen schon: Er war Teil der Weltmeisterschaft.

An den Finals zwei Tage später nehmen drei Kletterer des insgesamt sechzehnköpfigen Swiss-Paraclimbing-Teams teil. Einer von ihnen ist der 42-jährige Dominic Geisseler. Ihm fehlen seit Geburt fünfzehn Fingerglieder. Er klettert, seit er ein Teenager ist. Damals wäre eine WM sein Traum gewesen. Vor zwei Jahren, als der Alpen-Club SAC das Schweizer Paraclimbing-Team gründete, habe er sich zum ersten Mal im Leben damit auseinandergesetzt, als behindert zu gelten, sagt Geissler. Ob er Teil des Teams werden wollte, musste er sich mehrere Monate lang überlegen. Letztendlich sagte er zu, und er bereut seine Entscheidung nicht: Aus Bern reiste er mit einer WM-Bronzemedaille ab.