Pop: Egal, was andere sagen

Nr. 10 –

Nach ihrem gefeierten Debüt ist Kelela abgetaucht. Jetzt inszeniert die Sängerin auf ihrem neuen Album «Raven» eindrücklich ihre Wiedergeburt.

Kelela, hier in der «Tonight Show» von Jimmy Fallon
Zieht das Publikum in ihren Bann: Kelela, hier in der «Tonight Show» von Jimmy Fallon. Foto: Todd Owyoung, Getty

Anfang Februar in der Late-Night-Show von Jimmy Fallon steht eine 39-jährige Schwarze Frau in hellblauem Kleid aufrecht und selbstsicher auf der Bühne. Erste Akkorde erklingen, dann fängt sie an zu singen. Ihre Präsenz ist eine Wucht. Ein einfacher Beat setzt ein. Langsame Bass-Synkopen tragen die makellose, volle Stimme, die singt: «Nein, du bist nicht allein … du bist genug für die Liebe.» Mehrere Millionen schauen zu. Kelela Mizanekristos nimmt sich Raum. Selbst durch den Bildschirm spürt man, wie sie das Publikum in ihren Bann zieht.

Der Auftritt ist auch deswegen bemerkenswert, weil die US-amerikanische Musikerin, die in der Öffentlichkeit als Kelela auftritt, für mehrere Jahre von der Bildfläche verschwunden war – keine Social Media, keine Interviews, keine Auftritte. Kelela hat der Schnelllebigkeit der Szene getrotzt und ist nun fast sechs Jahre nach ihrem Debüt mit ihrer zweiten Album «Raven» zurück. Aber der Reihe nach.

Die Zukunft von R ’n’ B

2013 tauchte ein stark von Grime und R ’n’ B beeinflusstes Mixtape mit dem Titel «Cut 4 Me» auf, das man auf der Plattform Soundcloud kostenlos herunterladen konnte. Einige kannten Kelela damals schon, weil sie 2012 mit Beyoncés Schwester Solange Knowles auf Tour gewesen war. Dieses Mixtape, gemeinsam produziert mit bekannten Namen aus der Clubmusikszene, katapultierte sie ins Blickfeld von Musikmagazinen, DJs und Stars wie Björk. Viele Kritiker:innen feierten sie als vielversprechende Künstlerin, die die Erwartungen daran, was R ’n’ B in Zukunft sein könne, herausfordere. Einige kritisierten, sie müsse noch an ihrer Stimme arbeiten, die mit den virtuosen Beats oft nicht mithalten könne, um die Lücke zwischen ihren Ambitionen und ihren Fähigkeiten zu schliessen. Es folgten Features, Konzerte, eine EP und 2017 ihr erstes Studioalbum «Take Me Apart», das auf Warp Records erschien, einem Label, das auf die experimentellere Seite von Clubmusik spezialisiert ist – ein Umfeld, das mehrheitlich von weissen Männern geprägt ist. Die Reaktionen fielen diesmal durchgehend euphorisch aus, und «Take Me Apart» war auf zahlreichen Bestenlisten zu finden.

Doch Kelela wollte sich den Erwartungen und den Zuschreibungen, die dieser Erfolg besonders für eine queere Schwarze Frau mit sich bringt, nicht länger aussetzen. Sie habe immer härter arbeiten müssen, um wahrgenommen zu werden. In einem Interview erzählte Kelela kürzlich, dass sie mit einem internalisierten Perfektionismus gekämpft habe, der tief in weisser Vorherrschaft begründet sei. Seit sie sich wieder in der Öffentlichkeit äussert, spricht sie offen über ihre eigenen Erfahrungen und die Missstände in der Musikindustrie. Der Schmerz darüber transportiert sich oft auch über ihre Songtexte. In der Ambientballade «Holier» hüllen sich sanfte Klangflächen um die Erzählung von toxischen Beziehungen, die Narben hinterlassen haben. Aber es kümmere sie nicht mehr, was andere sagten, singt Kelela. Nie wieder.

Nach dem Feiern

Statt sich im Aussen zu verlieren und die frei schwingende Karriereleiter weiter hochzuklettern, zog sich Kelela zurück, um sich weiterzubilden und um den Dynamiken auf den Grund zu gehen, die ohne eine tiefe Auseinandersetzung mit Themen wie «misogynoir» (Hass auf Schwarze Frauen) und «colorism» (die Benachteiligung von Menschen mit dunklerem Hautton, auch innerhalb der Schwarzen Community) nur schwer benennbar sind. Sie hat sich in ihrer Schaffenspause von den Leuten getrennt, die nicht bereit dazu waren, sich mit ihrer Rolle in der von Rassismus und Misogynie geprägten Welt und Musikindustrie auseinanderzusetzen. Im titelgebenden Song ihres Comebackalbums «Raven», der schlicht mit einer sirenenartigen Melodie aus dem Synthesizer beginnt und sich nach vier Strophen in eine düstere, sphärische Clubhymne verwandelt, singt Kelela sogar von einer Wiedergeburt: «Durch all die Arbeit / wird ein Rabe wiedergeboren / Sie haben versucht, sie zu brechen / Es gibt hier nichts zu betrauern».

«Raven» ist lange gereift, trotzdem wirkt das Album auch erfrischend improvisiert, verspielt und ist nie überladen. Die Platte überzeugt durch ihre Schlicht- und Zartheit. Bässe, Hi-Hats, Synthies tauchen auf und ab, setzen sich zu Beats zusammen, zerfallen wieder, eingebettet in atmosphärische Sounds, verbunden durch Kelelas Sopranstimme. Es finden sich auch zahlreiche musikalische Referenzen zu Clubmusik, die an queere und Schwarze Wurzeln erinnern. «Contact» zum Beispiel wird von einem Breakbeat angetrieben, der seinen Ursprung in den siebziger Jahren in New York hat und den Grundstein für zahlreiche Clubmusikgenres der Neunziger legte. Die fünfzehn Tracks verschwimmen ineinander wie die Tage und Nächte nach einer langen Party. Nach solchen Feiermarathons sei «Raven» teilweise auch im Studio des in Berlin wohnhaften amerikanischen Produzenten LSDXOXO entstanden.

Oberflächlich mag «Raven» von Liebe, Schmerz und durchtanzten Clubnächten handeln. Aber das Album ist auch unterfüttert mit der Erkenntnis, dass die selbstbewusste und lustvolle Existenz einer queeren Schwarzen Frau, erst noch «dark skinned», von politischer Bedeutung ist.

CD-Cover «Raven» von Kelela

Kelela: «Raven». Warp Records. 2023.