Muktada al-Sadr: Der Populist, der die Strassen des Irak beherrscht

Nr. 36 –

Der mächtige schiitische Anführer Sadr kann auf Knopfdruck Zehntausende mobilisieren. Jetzt hat er sich aus der Politik zurückgezogen. Was will er?

Vor einigen Tagen vollzog Muktada al-Sadr ein weiteres seiner unvorhersehbaren Manöver: Der selbsternannte Kleriker und poli­tische Anführer gab auf Twitter bekannt, sich nun definitiv aus der Politik des Irak zurück­zuziehen. Kurz darauf stürmten seine An­hän­ger:in­nen in Bagdad den Regierungspalast. In verschiedenen Städten brachen zwischen ­Sadrs Saraya-al-Salam-Miliz und pro­iranischen Gruppen der Haschd al-Schabi Kämpfe aus. Die Haschd al-Schabi ist ein Zusammenschluss von Milizen, die zur Bekämpfung des Islamischen Staates gegründet wurden und nun teilweise der Regierung unterstellt sind.

Be­obach­ter:in­nen warnten vor einem Bürgerkrieg, die Uno-Mission im Land sah «das Überleben des irakischen Staates» auf dem Spiel stehen. Als die Gewalt ausser Kontrolle geriet, rief Sadr seine An­hän­ger:in­nen dazu auf, die Proteste und Kämpfe einzustellen – und sie gehorchten innert Stundenfrist. Bei den Auseinandersetzungen starben über dreissig Menschen, Hunderte wurden verletzt. Sadr, Brandstifter und Feuerwehrmann zugleich, hatte seine Macht demonstriert.

Vom Milizenführer zum Reformer

Wer ist der Mann, der die irakische Strasse wie kein anderer beherrscht und auf Knopfdruck Zehntausende mobilisieren kann? «Er ist ein konservativer, rechtsreligiöser Populist mit einer starken Tendenz zum Autoritarismus», sagt Christian Wyler, Irakexperte am Forum Islam und Naher Osten der Universität Bern. «Er ist sprunghaft und unberechenbar», sagt Ruba Ali, Soziologin an der britischen Universität Lancaster. «Er will der mächtigste Mann im Irak werden», sagt Sajad Dschiyad, Analyst in ­Bagdad.

Muktada al-Sadr bewegt die Gemüter, seit er 2003 auf der Bildfläche erschien. Er entstammt einer hoch verehrten Familie schiitischer Geistlicher. Sein Schwiegervater Bakir al-Sadr war einer der bedeutendsten schiitischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts. Sein Vater, Sadik al-Sadr, war eine zentrale Figur in der Wiederbelebung des schiitischen Islamismus in den 1990er Jahren. Beide wurden vom Baath-Regime des ehemaligen Präsidenten Saddam Hussein ermordet.

Die Sadrist:innen stammen vorwiegend aus ärmeren Schichten der Bevölkerung.

Seine eigene politische Karriere begann Sadr als lautstarker Kritiker der US-amerikanischen Besatzung des Irak ab 2003. Seine Mahdi-Armee kämpfte gegen US-Sol­dat:in­nen sowie auch im sektiererischen Bürgerkrieg 2006 bis 2008, in dem Zehntausende ums Leben kamen. Ab 2009 führten die Sa­drist:in­nen ihren Kampf vorwiegend an der Urne fort: Sadr wandelte sich vom schiitischen Milizenführer zum angeblich demokratischen Reformer und Nationalisten.

«Sadr erhält viel Unterstützung von der Basis», sagt Analyst Dschiyad, der für die US-amerikanische Denkfabrik The Century Foundation arbeitet. «Er versteht die Sprache der Strasse und nimmt ihre Stimmung in seine Rhetorik und Politik auf.». Sadr begreife, dass das derzeitige korrupte System nicht überleben werde, weil die Menschen wütend seien. Darum wolle er die Machtverteilung ändern – weg von einer schiitisch dominierten Konsensregierung. «Aber er will derjenige sein, der dabei den Ton angibt.»

Die Richtung vorgeben

Um das zu erreichen, gibt sich Sadr gern als aus­senstehender Reformer, obwohl er zum politischen Establishment gehört. «Er ist ein Meister der Selbstinszenierung», sagt Soziologin Ali. Die Sadristen besetzen seit 2003 Schlüsselpositionen in den verschiedenen irakischen Regierungen. Sadr selbst aber hatte nie ein formelles Amt in einer Regierung und konnte sich so bisher jeder Verantwortung entziehen.

Sein jüngster Rückzug ist ein weiteres Beispiel dafür. Denn die Gewalt von letzter Woche war der Höhepunkt einer seit elf Monaten anhaltenden Regierungskrise, bei der Sadr eine zentrale Rolle spielte: Sein Sairun-Block hatte bei den Parlamentswahlen im Herbst 2021 die meisten Sitze gewonnen, worauf Sadr versuchte, mit kurdischen und sunnitischen Parteien eine Regierung zu bilden. Dies wurde jedoch von den ausgeschlossenen schiitischen Parteien blockiert. Aus Frust zog Sadr im Juni schliesslich seine Abgeordneten aus dem Parlament zurück – auch wenn diese von der Bevölkerung gewählt wurden – und rief zu Massenprotesten auf. Tausende seiner An­hän­ger:in­nen stürmten daraufhin das Parlament und forderten Neuwahlen.

Kein Vertrauen in die Eliten

Die Sa­drist:in­nen sind heute mit mehreren Millionen An­hän­ger:in­nen eine der grössten islamistischen Bewegungen im Nahen Osten; sie stammen vorwiegend aus ärmeren, städtischen Bevölkerungsschichten. Die meisten sind tief religiös, eine Mehrheit von ihnen hat kein Vertrauen in die politischen Eliten und Institutionen des Landes und wünscht sich stattdessen eine religiöse Führung: Zu diesem Schluss kommt eine kürzlich veröffentlichte Umfrage, die die britische Denkfabrik Chatham House unter tausend Sa­drist:in­nen durchgeführt hat.

Sadr besitzt trotz seiner familiären Abstammung wegen seiner fehlenden religiösen Gelehrtheit nicht den Status ­einer traditionellen schiitischen Auto­rität. Er nutze jedoch seinen familiären Hintergrund, um sich als legitimen Führer der schiitischen Mus­lim:in­nen darzustellen, sagt Soziologin Ali. Er sei eine Kultfigur. «Seine An­hän­ger:in­nen messen ihm religiöse Bedeutung bei, sie verehren ihn und folgen ihm blind.» Sadr glaube an eine zivile Regierung und wolle keine Kleriker in politischen Positionen sehen, ergänzt Analyst Dschiyad. «Aber er möchte die religiöse Autorität sein, die den Zi­vi­list:in­nen die Richtung vorgibt und ihnen Anweisungen erteilt.»

Öffentliche Brüskierung

Es ist nicht das erste Mal, dass Sadr ankündigt, der Politik abzuschwören: Er hatte bereits in der Vergangenheit die Aktivitäten seiner Bewegung ausgesetzt, um seinen Unmut zu bekunden – kehrte dann aber doch jedes Mal zurück. Der aktuelle Rücktritt kommt jedoch als Antwort auf den angekündigten Ruhestand von Grossajatollah Kasem al-Haeri, einer einflussreichen spirituellen Führungsfigur in der Sadristenbewegung, der im Iran lebt. Haeri forderte die Sa­drist:in­nen in einem Statement dazu auf, von nun an dem iranischen Reli­gionsführer Ali Chamenei zu folgen – statt Sadr oder einer anderen religiösen Autorität im Irak.

Haeri kritisierte im gleichen Statement «die spalterische Rhetorik» derjenigen, die sich als «Erben» der Sadr-Familie sehen – eine klare Kritik an Muktada al-Sadr und eine demütigende Brüskierung seiner nationalistischen, antiiranischen Politik. «Sadr konnte sich über die Jahre als religiöse Autorität inszenieren, weil Haeri Stillschweigen wahrte», sagt Wyler von der Universität Bern. Jetzt habe ihm der Grossajatollah diese Autorität öffentlich abgesprochen.

Um seine Machtbasis zusammenzuhalten, muss sich Sadr nun neu positionieren. «Er wird noch stärker auf Nationalismus, Populismus und die Kritik am bestehenden System setzen», sagt Wyler. Damit drohe sich die Lage im Irak weiter zu verschärfen.