Der Irak in der Krise: Zwischen den Fronten

Nr. 36 –

Seit Monaten schwelt der Konflikt zwischen den USA und dem Iran. Mittendrin befindet sich der Irak. Viele dort wollen vor allem eins: dass ihr Land endlich vom Einfluss der Grossmächte unabhängig wird.

Volksheld für viele SchiitInnen: Aus dem nach Grossajatollah Muhammad Sadiq al-Sadr benannten Stadtteil Bagdads sind besonders viele junge Männer gegen den IS in den Krieg gezogen. Foto: Vincent Haiges

Die Särge, die durch die Menge getragen werden, sind in irakische Flaggen gehüllt. Sterbliche Überreste befinden sich darin keine. Die sind längst begraben worden – wenn man die Leichen denn gefunden hat: Viele liegen in noch immer unentdeckten Massengräbern. 1700 Soldaten soll der sogenannte Islamische Staat (IS) im Juni 2014 beim Luftwaffenstützpunkt Camp Speicher in der Nähe von Tikrit umgebracht haben. Die genaue Zahl kennt niemand.

Aufgearbeitet wurde das Verbrechen nie. Auch wurde nicht die Frage geklärt, welche Fehlentscheide der damaligen Regierung das Massaker überhaupt ermöglicht haben. «Der IS profitierte von der Korruption, vom Hass zwischen den Religionsgruppen, von der Einmischung fremder Länder in die irakische Politik», sagt Hanaa Edwar. Sie steht auf der breiten Betonmauer mitten auf dem Freiheitsplatz im Zentrum Bagdads, ihre Stimme hallt über die Köpfe der DemonstrantInnen. Ein paar Hundert Menschen haben sich versammelt. Sie gedenken der vor fünf Jahren gefallenen Soldaten und fordern, dass das «Speicher-Massaker» endlich aufgeklärt und die verantwortlichen PolitikerInnen zur Rechenschaft gezogen werden.

Seit Dezember 2017 ist der Krieg gegen den IS offiziell beendet. Neben dem Speicher-Massaker sind auch viele weitere Verbrechen bis heute nicht aufgeklärt. Trotzdem scheint die nächste Krise bereits bevorzustehen: Der Konflikt zwischen den USA und dem Iran ist in den vergangenen Monaten langsam, aber entschieden eskaliert. Im – unwahrscheinlichen, aber nicht ausgeschlossenen – Fall eines offenen Krieges droht ein Flächenbrand in der ganzen Region.

Ein zentrales Schlachtfeld

Nach ihrer Rede steigt die kleine Frau mit den kurzen, grauen Haaren von der Mauer herunter. Hanaa Edwar ist so etwas wie die Mutter Teresa des Irak. Sie ist eine der bekanntesten MenschenrechtsaktivistInnen und setzt sich besonders für Frauenrechte ein. In einem denkwürdigen Auftritt im Jahr 2011 platzte sie in eine Fernsehkonferenz des damaligen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, um ihm vor laufender Kamera eine Standpauke über die Verhaftung von vier DemonstrantInnen durch die Armee zu halten.

Die Entwicklung der letzten Monate ist bedrohlich – angefangen mit Angriffen auf Tankschiffe im Persischen Golf, für die die USA den Iran verantwortlich machen. Im Mai zogen die USA überraschend ihr diplomatisches Personal aus dem Irak ab und behaupteten, die mit dem Iran verbrüderten schiitischen Milizen hätten Angriffe auf US-Einrichtungen geplant. Eine drastische Massnahme, die zeigt, dass der Irak im Konflikt zwischen den USA und dem Iran mittendrin ist. Wenige Tage später schlug tatsächlich eine Rakete in der Nähe der US-Botschaft ein, dann wurden US-Militärbasen angegriffen. Verletzt wurde niemand, eine weitere Eskalationsstufe war es trotzdem. Falls es zu einem Krieg kommen sollte – darin sind sich in Bagdad alle einig –, wird der Irak zu einem zentralen Schlachtfeld.

Doch auf die Frage zum drohenden Krieg geht Hanaa Edwar kaum ein. Sie glaubt nicht daran, dass der Konflikt in einer offenen Auseinandersetzung münden wird. Stattdessen zählt sie die aus ihrer Sicht dringenderen Probleme auf, die im Irak derzeit gelöst werden müssten: Die Regierung sei noch immer nicht vollständig besetzt, und das mehr als ein Jahr nach den Wahlen. Die Korruption verunmögliche jegliche Reformen, und die PolitikerInnen würden noch immer entlang konfessioneller Trennlinien denken, statt im Interesse der IrakerInnen zu handeln.

«Die waren alle in der Opposition gegen Saddam, haben irakische Flaggen gehisst und von Freiheit geredet», empört sich Edwar. «Und kaum sind sie an der Macht, haben sie alle ihre Statements vergessen.» Das beste Beispiel dafür sei eben, dass das Speicher-Massaker noch immer nicht aufgearbeitet worden sei. Edwar rechnet zwar nicht mit einem Krieg, in der ausländischen Einmischung in die irakische Politik sieht sie dennoch ein wesentliches Problem. Fast alle PolitikerInnen würden einzig in ihrem eigenen Interesse handeln und in jenem der USA oder des Iran.

Die Milizen als Problem

Das Kräftemessen zwischen den USA und dem Iran um Einfluss im Irak besteht seit 2003. Die Linie der Regierung in Bagdad war es jeweils, zwischen den beiden Lagern zu balancieren und keine der Grossmächte zu vergraulen. In den vergangenen Monaten aber haben beide Seiten ihren Druck auf den Irak erhöht: Im April forderte der iranische Revolutionsführer Ali Chamenei die Regierung in Bagdad auf, den Abzug der 5000 stationierten US-Soldaten zu forcieren. US-Aussenminister Mike Pompeo wiederum sagte während eines Besuchs in der Hauptstadt im Mai, die USA wolle «sicherstellen, dass der Irak eine unabhängige Nation» bleibe. Er meinte: unabhängig vom Einfluss des Iran und an der Seite der Vereinigten Staaten. Bei Gesprächen soll er angekündigt haben, die USA würden sich militärisch verteidigen, falls sie im Irak angegriffen würden.

Tatsächlich hat sich das Tauziehen im Irak in den letzten Jahren zugunsten des Iran verschoben. Eine wichtige Rolle dabei spielten ausgerechnet jene schiitischen Milizen, die im Krieg gegen den IS noch Seite an Seite mit der US-geführten Militärkoalition kämpften. Nachdem der IS 2014 in wenigen Wochen vom Nordwesten des Landes her bis kurz vor Bagdad durchmarschiert war, forderte Grossajatollah Ali al-Sistani, das geistliche Oberhaupt der SchiitInnen im Irak, die Gläubigen in einer Fatwa dazu auf, gegen den IS in den Kampf zu ziehen. Zehntausende folgten dem Ruf. Heute ist der IS zwar besiegt, die Milizen aber sind noch da. Und mittlerweile sieht Washington in ihnen ein massives Problem: Auch wenn sie offiziell der irakischen Regierung unterstehen, hören viele von ihnen tatsächlich auf Befehle aus Teheran.

Es ist an diesem Freitagmittag gegen fünfzig Grad heiss. Die Strasse im Zentrum des Bagdader Quartiers Sadr City ist für Autos gesperrt: Anschlaggefahr. Hunderte Gläubige haben ihre Gebetsteppiche auf den heissen Asphalt gelegt und warten unter einem Meer von Regen- und Sonnenschirmen auf den Beginn des Gebets. Der Imam Salah al-Obaidi sitzt in einem Container neben der Bühne, auf der er in wenigen Minuten seine Predigt halten wird. Obaidi ist nicht nur Imam, sondern auch Sprecher des populären schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr, dessen Allianz Sairun vergangenes Jahr die Wahlen gewonnen hat. «Der Konflikt zwischen dem Iran und den USA wird auch im Irak ausgetragen», sagt Obaidi. Das fange schon bei der Regierungsbildung an, wenn es um die Frage gehe, welche Partei welches Ministerium kontrollieren werde. Nach Sairun bekam das Fatah-Bündnis die meisten Stimmen, das im Wesentlichen die Haschd al-Schaabi, die Dachorganisation der schiitischen Milizen, repräsentiert. Derzeit halten sich das Pro-Iran-Bündnis um Fatah und der nationalistische Block von Sadr im Parlament die Waage. «Die Position von Muktada al-Sadr ist klar: Der Irak sollte sich aus diesem Konflikt raushalten.»

Die irannahen schiitischen Milizen im Irak, aber auch im Libanon, in Syrien und im Jemen, sind für Teheran einer der wichtigsten Trümpfe im Poker gegen die USA. Ihre Botschaft ist deutlich: Sollten die Vereinigten Staaten es wagen, den Iran frontal anzugreifen, wäre es nicht ein Krieg gegen ein Land, sondern gegen eine ganze Region.

Muktada al-Sadr war nach 2003 am bewaffneten Aufstand gegen die USA beteiligt. Heute kritisiert er vor allem die Einflussnahme des Iran. Er will, dass sich der Irak aus überregionalen Konflikten heraushält. Damit sowie mit der Ankündigung, entschieden gegen Korruption vorzugehen, hat er in einem Zusammenschluss mit den KommunistInnen die meisten WählerInnenstimmen gewonnen. Den ungewöhnlichen Zusammenschluss begründete das Bündnis mit gemeinsamen Forderungen, die wichtiger als ideologische Differenzen seien.

Wie sehr die Korruption das Land lähmt, lässt sich in Sadr City besonders gut beobachten. Die Hauptstrassen mögen betoniert sein, doch sobald man ins Quartier hineinfährt, holpert das Auto über Schotterpisten und Sand. Überall brummt es, alle zwei Stunden wird die Stromversorgung unterbrochen, und die Generatoren werden angeworfen. Das Quartier wurde 1959 für ZuzügerInnen aus dem armen, schiitischen Südosten des Irak gebaut. Damals hiess es noch Revolutionsviertel. Als Saddam Hussein an die Macht kam und einen Aufstand der schiitischen Unterschicht fürchtete, taufte er es rasch in Saddam City um. Seit seinem Sturz 2003 ist es nach Muhammad Sadiq al-Sadr benannt, Muktadas Vater, der für viele SchiitInnen ein Volksheld ist.

Aus Sadr City sind besonders viele junge Männer dem Aufruf Sistanis gefolgt, gegen den IS zu kämpfen. Ali Muhammad, der seinen richtigen Namen für sich behalten will, wollte damals ebenfalls in den Kampf ziehen. Doch ein lokaler Scheich, den Muhammad um Rat fragte, sagte, er solle sein Informatikstudium abschliessen. Inzwischen ist Muhammad trotzdem bei den Milizen gelandet – nur anders. Er hat einen Job als Informatiker bei den Haschd al-Schaabi gefunden.

Dass die Dachorganisation immer mehr zivile Jobs anbietet, ist für viele ein Zeichen dafür, dass sich die Milizen zu wandeln versuchen und auf langfristigen Einfluss hinarbeiten. «Die Haschd sind hier, um zu bleiben», sagt ein irakischer Analyst, der aufgrund seines Jobs anonym bleiben muss. Das bedeutet, dass damit auch der Iran seinen Einfluss im Irak festigt. Abgesehen davon untergraben die Milizen, deren Zahl auf rund 120 000 geschätzt wird, das Gewaltmonopol der Armee. Der Analyst sagt aber auch, die zentralen Wirtschaftspfeiler – Öl und Banken – würden bis heute faktisch von den USA kontrolliert.

Furcht statt Respekt

Informatiker Muhammad war zunächst froh, dass er überhaupt einen Job gefunden hat. Die Arbeitslosigkeit ist im Irak hoch, besonders bei den Jungen. Dass er für die Milizen arbeitet, stört ihn nicht – im Gegenteil: Er ist bis heute stolz darauf, welche Opfer sie gebracht haben, um den IS zu besiegen. Für Leute wie Ali Muhammad sind die Haschd al-Schaabi Volkshelden, die den Irak verteidigt haben. Doch auch hier in Sadr City fürchten sich viele vor den Milizen, auch wenn dies paradox klingen mag. Einerseits sind viele IrakerInnen, vor allem die religiösen SchiitInnen, stolz auf den Kampf der Haschd gegen den IS. Gleichzeitig fürchten sie sich vor der Repression der Milizen. Denn viele seien mächtig genug, um Leute verschwinden zu lassen, die sich ihnen in den Weg stellen.

Am 1. Juli hat Premierminister Adil Abd al-Mahdi beschlossen, die Haschd vollständig in die irakische Armee zu integrieren. Das erklärte Ziel: die Milizen unter die Kontrolle der Regierung zu bringen. Ob dies jedoch gelingt und die Entscheidung mehr als nur Symbolik zur Besänftigung der USA sein wird, ist fraglich. Zwar wünschen sich viele eine unabhängige irakische Politik, wie das aber genau funktionieren soll, darauf hat auch Sadrs Sprecher Salah al-Obaidi keine wirkliche Antwort.