Durch den Monat mit Nathalie Anderegg (Teil 1): Was bedeutet es, mit Schizophrenie zu leben?

Nr. 18 –

Die Ethnologin Nathalie Anderegg lebt seit einem Kriegserlebnis mit Schizophrenie, einer Krankheit, die in den Medien meist falsch dargestellt werde.

Nathalie Anderegg: «Ich habe eine Art inneres Frühwarnsystem entwickelt. Wenn ich merke, dass es anfängt zu flackern, nehme ich mein Neuroleptikum und lege mich schlafen.»

WOZ: Frau Anderegg, als wir dieses Treffen telefonisch vorbesprachen, sagten Sie, dass Sie vor allem genug Zeit einplanen möchten, um über Schizophrenie zu sprechen. Tun wir das als Gesellschaft zu wenig?
Nathalie Anderegg: Ja, natürlich, diese Erkrankung wird so gut wie totgeschwiegen – und hört man mal davon, dann in irgendwelchen Krimiserien. Dort sind es völlig abgedrehte Psychopathen und Massenmörder, die an Schizophrenie leiden. Schon rein statistisch gesehen, stimmt diese Darstellung aber nicht: Schizophrene sind im Schnitt kein bisschen gewalttätiger als Menschen ohne Schizophrenie – ausser, wenn Kokain oder Ähnliches mit im Spiel ist. Messbar erhöht ist bei Betroffenen dagegen das gegen sich selbst gerichtete Gewaltpotenzial und entsprechend auch das Suizidrisiko. Die Darstellungen, die durch die Medien geistern, zeigen vor allem auf, dass die wenigsten Menschen wirklich wissen, was es bedeutet, an Schizophrenie zu leiden.

Mögen Sie es mir erklären?
Schizophrenie bedeutet, dass ein Mensch wiederholt Psychosen oder psychotische Episoden erlebt. Zudem gibt es nicht die eine, richtige Schizophrenie; man spricht in diesem Zusammenhang vom schizophrenen Formenkreis, der einen ganzen Haufen Arten und Ausprägungen umfasst.

Wie äussert sich die Krankheit denn bei Ihnen?
Meine erste richtige Psychose hatte ich mit dreissig. Sie war durch eine Kriegssituation ausgelöst worden, in der ich mich unvermittelt wiederfand. Ich forschte in Kaschmir, als 1999 der Kargil-Krieg losbrach. Ich musste sehr schnell das Land verlassen, was in drei Tagen und drei Nächten Dauerstress resultierte. Als ich zurück in die Schweiz kam, war ich posttraumatisch belastet, was sich dann in einer Psychose äusserte. Ich war voller Angst und Paranoia, fühlte mich verfolgt.

Äussern sich schizophrene Psychosen denn immer anhand der gleichen Muster und Gefühle?
Grob gesagt, können Psychosen zwei Seiten haben: Entweder man ist in der subjektiven Wahrnehmung böse und – plakativ ausgedrückt – an allem schuld, was in der Welt schiefläuft, oder man ist erleuchtet und kann helfen, die Welt zu retten. Diese zwei Zustände können sich auch innerhalb ein und derselben Psychose ausdrücken. Im Kern ist beides eine Übersteigerung der eigenen Wichtigkeit. Ich persönlich gehöre ausserdem zu jenen, die während einer Psychose Stimmen im Kopf hören. Entgegen der landläufigen Meinung ist das bei Betroffenen aber eher selten.

Wie ging es denn weiter, als Sie zurück in der Schweiz waren?
Nach dem Ausbruch der ersten Psychose war ich lange in stationärer Behandlung und bekam viel zu hohe Dosen von Neuroleptika, was auch daran lag, dass man mir anfangs nicht glaubte, ich hätte diese traumatische Kriegssituation tatsächlich erlebt.

Also verstehe ich das richtig, dass Ihnen die Ärztinnen und Ärzte unterstellten, Sie hätten sich das alles zusammenfantasiert?
Die kriegerische Auseinandersetzung war vergleichsweise kurz und entsprechend in der Schweiz nicht gross medial aufgegriffen worden. Auch die behandelnden Ärzte hatten bis dahin noch nichts davon gehört und dachten zuerst, ich würde in meinem Wahn alles erfinden. Schliesslich musste meine Mutter, die mich in Kaschmir besucht hatte, quasi als Zeugin gegenüber den Ärzten aussagen, dass ich die Wahrheit erzählte. Es war absurd. Rückblickend hätte ich nach meiner Rückkehr weniger Medikamente und mehr psychotherapeutische Betreuung gebraucht.

Wie ging es für Sie nach der Klinik weiter?
Was die Krankheit betrifft, habe ich Glück im Unglück, denn ich gehöre zu jenen, die ab und zu eine Episode haben, dazwischen aber weitgehend symptomfrei leben. Dadurch ist es für mich möglich, nach dem Abklingen einer Psychose keine Neuroleptika mehr zu nehmen. Ich muss aber immer wachsam und achtsam sein und sofort reagieren, wenn ich Symptome verspüre.

Wie merken Sie denn, dass sich eine psychotische Episode anbahnt?
Ich habe eine Art inneres Frühwarnsystem entwickelt: Wenn ich merke, dass es anfängt zu flackern und komische Gedanken aufkommen, nehme ich eine Dosis von meinem Neuroleptikum und lege mich schlafen. Nach meiner ersten Psychose war ich fast sechzehn Jahre lang episodenfrei.

Können Sie dieses Flackern beschreiben?
Wenn ich plötzlich meine, irgendwelche Muster oder auch Wörter in meiner Umwelt seien direkt an mich gerichtet und hätten eine Botschaft in sich, die nur ich verstehe, weiss ich, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich bin dann auch sehr sensibel und feinfühlig. Das Gehirn fühlt sich plötzlich wie eine Art Supercomputer an, es denkt und vernetzt schneller als sonst. Dabei ist nicht einmal immer falsch, was man zu erkennen meint. Das Problem ist, dass man in diesem Zustand selber eben nicht mehr zwischen wahr und eingebildet unterscheiden kann.

Nathalie Anderegg (55) ist Ethnologin und Radioreporterin. Sie ist Mutter eines Sohnes und leitet einen Selbsthilfeverein für Menschen mit psychischer Krisenerfahrung.