Durch den Monat mit Gianna Olinda Cadonau (Teil 3): Kennst du den Namen deiner leiblichen Mutter?

Nr. 3 –

An ihre Kindheit im Engadin hat Gianna Olinda Cadonau sehr schöne Erinnerungen. Trotzdem wollte sie nach der Matura weit weg. Während des Studiums in Genf genoss sie es, nicht mehr in einer homogenen weissen Gesellschaft zu leben.

Gianna Olinda Cadonau: «Ich hatte einen Namen und eine Adresse, fand aber nichts, nicht einmal eine Spur.»

WOZ: Gianna, in einem Gedicht von dir heisst es: «und mein Tal von einst / gehört mir nicht». Meinst du damit das Unterengadin, wo du aufgewachsen bist?
Gianna Olinda Cadonau: Ja. Im Engadin gibt es diese grosse Erzählung von der Heimat, in die man zurückkommt – historisch geprägt von den Zuckerbäcker:innen, die in Italien oder Österreich Bäckereien und Cafés eröffneten und irgendwann zurückkamen, manchmal mit viel Geld. Das wird verbunden mit den Schwalben, die jeden Sommer zurückkehren: «Ils randulins» nennt man auch die Menschen, die gegangen und zurückgekommen sind. Das Engadin war mein erstes Daheim, aber heute ist mein Daheim grösser. Wenn ich sage, ich sei Engadinerin, ist das nicht die ganze Wahrheit.

Hast du gute Erinnerungen an deine Kindheit in Scuol?
Auf jeden Fall. Es war eine traumhafte Zeit. Als Kind rannte ich oft allein im Wald herum – manchmal mit dem Hund vom Bauernhof, wo wir Milch, Eier und Mehl kauften – und spielte je nach Jahreszeit Pocahontas, Ronja Räubertochter oder Inuit.

Ich erinnere mich auch, wie ich später, als ich das Hochalpine Institut Ftan besuchte, mit Schulkolleginnen vor dem Haus sass und wir zueinander sagten: Wir gehen wirklich an einem schönen Ort zur Schule! Aber je älter ich wurde, desto klarer war mir, dass ich weggehen will.

War dir das Landleben verleidet?
Neben dieser riesigen Freiheit gab es schon auch eine andere Seite: das Dorfleben. Man hat einander ständig beobachtet und kommentiert und eingeordnet. Und war sich der Kräfteverhältnisse im Dorf sehr bewusst. Alle wissen, du bist die Tochter von denen. Darum ist es wichtig, dass der Ruf stimmt. Unser Vater war Lehrer – meine Schwester und ich wurden sehr gefördert, es war wichtig, dass wir reüssierten. Es wäre für unsere Eltern sicher unangenehm gewesen, wenn wir uns zu Gören entwickelt hätten, die im Dorf rumlungern. Sie standen als Ehepaar, das zwei Kinder aus Indien adoptiert hatte, auch unter Beobachtung.

Du hast dann in Genf internationale Beziehungen studiert.
Ich wollte unbedingt auf Französisch studieren, weil mir die Sprache so gut gefiel. Ich wollte auch ganz weit weg – und Genf ist in der Schweiz am weitesten weg von Scuol. Dort hatte ich zum ersten Mal im Leben Heimweh und verstand zuerst gar nicht, was mit mir los war. Später fühlte ich mich aber pudelwohl in Genf. Ich hatte eine sehr schöne WG mit Student:innen aus Honduras, Vietnam, Malaysia, Spanien … Die internationale Stimmung, die durchlässige Gesellschaft, das alles entsprach mir sehr. Da war ich nirgends alleine braun. Weder an der Kasse noch im Bus oder im Kino, an der Uni sowieso nicht.

Warum bist du nicht geblieben?
Wahrscheinlich wäre ich geblieben, wenn ich nicht Jan kennengelernt hätte, meinen heutigen Mann. Er kommt aus Deutschland und studierte Logopädie in Rorschach – er hätte nicht in der Romandie arbeiten können. Chur ist ein guter Kompromiss für uns und hat als Kleinstadt den Vorteil, dass ich mein jetziges Arbeitsumfeld, die Kulturszene, schnell kennenlernte und hier viel mitgestalten kann.

Ein Gedicht in deinem letzten Buch beginnt mit den Zeilen «Die andere Heimat / wäre hell und ohne Grenzen» und beschreibt ein utopisch schönes Land. Dachtest du dabei an Goa, wo du geboren bist? Oder an ein Paradies?
Wahrscheinlich an ein Paradies im Sinn von Heimat. Viele meiner Gedichte handeln davon: Gibt es den Ort, wo alles gut ist? Das sind meine Leute, das ist mein Land, da bin ich daheim – diese sehr absolute Vorstellung von Heimat. Das hat schon mit meiner Biografie zu tun: in Indien geboren werden und im Engadin aufwachsen, in einer sehr homogenen weissen Gesellschaft. Es war doch immer sehr präsent, dass meine Schwester und ich nicht hier geboren sind. Dass alle immer gleich sehen, dass wir nicht von hier kommen – anscheinend nicht. Das ist wohl einfach das Resultat, wenn man ein Kind aus einem weit entfernten Land adoptiert: Es fühlt sich in beiden Ländern nicht ganz zugehörig. Mit 21 ging ich mit Jan auf die Suche nach meiner leiblichen Mutter, fand aber nichts, nicht einmal eine Spur.

Wusstest du ihren Namen?
Ja, ich hatte auch eine Adresse. Wir suchten an diesem Ort in den Kirchenbüchern – Goa ist grösstenteils katholisch. Der Anwalt, der die Adoption auf indischer Seite begleitet hatte, sagte aber, es sei in Indien möglich, falsche Angaben zu machen, wenn jemand nicht gefunden werden will. Auch das Heim, in dem ich die ersten Monate lebte, ist umgezogen; dort konnte ich nichts mehr herausfinden.

Für mich war klar: Ich suche nicht eine Mutter, ich suche die Frau, die mich geboren hat. Und sie hat, wenn sie noch lebt, ein eigenes Leben. Sie hat diese Entscheidung getroffen, und was sie will, gilt genauso viel, wie was ich will. Auch wenn ich sie nicht gefunden habe – für mich war diese Reise wichtig.

Gianna Olinda Cadonau (38) ist Lyrikerin und leitet bei der Lia Rumantscha, dem Dachverband der rätoromanischen Sprachverbände, den Bereich Kultur. Sie lebt mit ihrer Familie in Chur.