Geschichtspolitik: Die Namen sollen nicht zurückkehren

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Ende Dezember haben zwei russische Gerichte die renommierte Bürgerrechtsorganisation Memorial und ihr gleichnamiges Moskauer Zentrum verboten. Es ist ein Versuch, das historische Gedächtnis des Landes zu tilgen.

Eins muss man dem russischen Regime lassen: Einen Sinn für gutes Timing hat es noch immer bewiesen. So war es auch diesmal kaum ein Zufall, dass ausgerechnet in den letzten Tagen des Jahres ein Entscheid mit maximaler gesellschaftlicher Tragweite fiel: das Aus für Memorial, Russlands renommierteste Menschenrechtsorganisation.

Speziell war der Zeitpunkt dabei gleich in mehrfacher Hinsicht: Nicht nur lag der 30. Jahrestag des Zusammenbruchs der Sowjetunion – ein Ereignis, das der ehemalige KGB-Agent und heutige Präsident Wladimir Putin einst als «grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnet hatte – erst ein paar Tage zurück; die Zeit um Neujahr ist in Russland zudem traditionell ruhig, viele verabschieden sich in die Winterferien. Und auch im Westen, so wohl das Kalkül der Mächtigen, würden die Reaktionen nach Weihnachten bescheidener ausfallen.

Am 28. Dezember verordnete das Oberste Gericht die Zwangsauflösung des Dachverbands Memorial International. Einen Tag später beschloss ein Moskauer Gericht auch die Schliessung des gleichnamigen und juristisch eigenständigen Menschenrechtszentrums, das politisch Verfolgte, Opfer von Repression und Geflüchtete unterstützt und Beobachter:innen in Kriegsgebiete schickt. Zur Last gelegt hatte die Staatsanwaltschaft den Institutionen Verstösse gegen das «Gesetz über ausländische Agenten»: So hätten sie in Publikationen nicht ausreichend auf ihre «Mitfinanzierung aus dem Ausland» hingewiesen.

Entscheid aus dem Kreml

Dass es bei dem Prozess ohnehin nie um solche Formalien ging, die die Anwält:innen von Memorial im Übrigen in aller Ausführlichkeit widerlegt hatten, zeigt schon allein der entlarvende Auftritt des Staatsanwalts: Statt «glorreicher Errungenschaften zu gedenken», zwinge Memorial die Menschen «zur Reue über die sowjetische Vergangenheit», sagte er vor Gericht. Die Organisation zeichne «ein verlogenes Bild der Sowjetunion als Terrorstaat» und rehabilitiere «Naziverbrecher und Vaterlandsverräter». «Warum müssen wir, die Nachfahren der Sieger, diesem Vorgang zusehen?», fragte der Staatsanwalt – und gab die Antwort gleich selbst. «Vermutlich, weil jemand dafür bezahlt.»

Dass der Entscheid zur Liquidierung von Memorial im Kreml gefallen ist, die Justiz also bloss willige Vollstreckerin war, daran besteht kein Zweifel. Dies zeigt, wie entschlossen Putin ist, die Erinnerung an die Sowjetzeit und die Verbrechen des Stalinismus zu überschreiben. Das Regime will wieder selbst darüber verfügen, wie über die Geschichte gesprochen wird. In der Erzählung einer glorreichen Vergangenheit aber ist für kritisches Gedenken kein Platz.

In diesem Licht lässt sich auch das Verbot des Menschenrechtszentrums lesen: Wo sich Memorial International um eine würdige Erinnerungskultur bemühte, stand deren Schwesterorganisation für jene ein, deren Rechte das heutige Regime verletzt. Passend dazu warf die Staatsanwaltschaft dem Zentrum vor, mit seiner Liste politischer Häftlinge, auf der sich zurzeit 433 Personen befinden, «terroristisches Gedankengut» zu legitimieren. Die beiden Urteile folgen damit einer perfiden, aber konsequenten Logik: Wer die Aufarbeitung historischer Verbrechen verbieten will, darf auch die Dokumentierung gegenwärtiger Gräueltaten nicht ungestraft lassen.

Die Bedeutung von Memorial und seiner über fünfzig Ableger in ganz Russland sowie diversen postsowjetischen und europäischen Staaten könnte nicht grösser sein: Mit ihrem umfangreichen Archiv aus Oral-History-Zeugnissen, Opferlisten und Täter:innenhinweisen war und bleibt die Organisation das historische Gedächtnis eines Landes, das sich seiner Geschichte nie offiziell gestellt hat. Mehr noch: In einem Land, das zwischen Realsozialismus und Autoritarismus nie eine wirkliche Zivilgesellschaft entwickeln konnte, ist Memorial eine echte Bürger:innenbewegung.

Die Notwendigkeit dafür entstand aus der Geschichte selbst. Bis in die achtziger Jahre hatte das Sowjetregime die Wahrheit über die Vernichtung von Millionen Menschen in den Straf- und den Arbeitslagern tabuisiert, Schriften wie jene von Warlam Schalamow – dem grossen Chronisten des Gulagsystems, der selbst jahrelang im Lager war – nicht zur Publikation freigegeben. «Die Überlebenden sollten schweigen. Viele verdrängten das Durchlebte, um nicht alte Wunden aufzureissen. Ihre Geschichten ebenso wie die der unzähligen Toten und Verschwundenen blieben der Öffentlichkeit, oftmals sogar der eigenen Familie verborgen», schreibt die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein auf dem Blog «Geschichte der Gegenwart».

Die Würde der Opfer

Als Michail Gorbatschow dann seine Politik der Offenheit (Glasnost) ausrief, entstanden überall in der Sowjetunion Initiativen, in deren Rahmen sich ehemalige Lagerhäftlinge und ihre Angehörigen, Dissident:innen und die Intelligenzija der lange verschwiegenen Geschichte widmeten. Aus dieser Bewegung ging Ende der achtziger Jahre Memorial hervor – mit dem Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow als erstem Vorsitzendem. Er und seine Mitstreiter:innen glaubten daran, dass eine demokratische Gesellschaft nur dort entstehen kann, wo die Vergangenheit genau studiert wird.

Seither hatten Überlebende und Angehörige der Opfer eine Organisation, an die sie sich auf der Suche nach den Spuren ihrer Familien wenden konnten. In einem Land, in dem das kollektive Trauma so lange keinen Ausdruck fand, gab Memorial den Menschen die Sprache zurück. Symbolisch dafür steht eine berührende Zeremonie, die sich jeweils Ende Oktober abspielt: Auf dem Platz vor dem Hauptquartier des heutigen wie ehemaligen Geheimdiensts versammeln sich Jahr für Jahr Tausende Moskauer:innen vor einem steinernen Mahnmal, um die Namen der vielen Opfer des Grossen Terrors zu verlesen. «Rückgabe der Namen» nennt Memorial die Aktion. Es war auch stets eine Rückgabe der Würde.

Dass die Arbeit von Memorial Putin spätestens seit seiner Rückkehr in den Kreml 2012 ein Dorn im Auge war, zeigt nicht nur die Eintragung ins Register der «ausländischen Agenten». So hatte das Justizministerium schon 2014 ein Verbot der Organisation erwirken wollen, das das Verfassungsgericht allerdings abwies. 2018 wurde der tschetschenische Memorial-Vertreter Ojub Titijew zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Und Ende Dezember erhöhte ein Berufungsgericht das Strafmass des Historikers und karelischen Memorial-Vorsitzenden Juri Dmitrijew, der in der Provinz Karelien Massengräber aus der Zeit des Grossen Terrors entdeckt hatte, auf fünfzehn Jahre. Warum das Regime gerade jetzt zum finalen Schlag gegen Memorial ansetzte, darüber lässt sich bloss spekulieren.

Die Auflösung der Bürgerrechtsorganisation ist Folge langjähriger Verfolgung, Teil repressiver Kontinuitäten – und dennoch ein Paukenschlag. Wer die Hoffnung auf einen demokratischen Aufbruch überhaupt noch hatte, dürfte nun vollends ernüchtert sein. Das Urteil sei ein Signal, sagte die Historikerin Irina Scherbakowa, eine der Mitgründer:innen von Memorial, in einem Interview: nach innen, weil es anderen Gruppen signalisiere, dass sie sich nicht sicher fühlen können, und nach aussen, weil es dem Ausland bedeute, sich nicht einzumischen, weil der Kreml ohnehin mache, was er wolle.

Bedürfnis nach Wahrheit

In einem immerhin hat sich der Kreml getäuscht: So geräuschlos wie erhofft ging die Zerschlagung von Memorial nicht vonstatten. Das Schweizer Aussendepartement kritisierte den Gerichtsentscheid ebenso wie Vertreter:innen der EU, der USA und vieler weiterer Länder, auch zahlreiche Organisationen und Opfervertretungen bekundeten ihren Unmut. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg forderte die Aussetzung des Urteils, weil eine frühere Beschwerde von Memorial dort noch hängig ist. Die Organisation hat indes angekündigt, das Urteil weiterzuziehen – zur Not bis nach Strassburg.

Wie es weitergeht, ist schwer zu sagen. In seiner Stellungnahme zum Urteil gab sich Memorial jedenfalls kämpferisch: «Wir sind keine Organisation, nicht einmal eine Bürgerbewegung. Memorial – das ist das Bedürfnis von Russlands Bürgern nach der Wahrheit über die tragische Vergangenheit, die Schicksale von Millionen Menschen. Und dieses Bedürfnis zu ‹liquidieren›, wird niemandem gelingen.»