Repression in Russland: Ein Überfall mit Zufälligkeiten

Nr. 44 –

Eine Filmvorführung der Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau wurde von maskierten Unbekannten überfallen. Die Reaktion der Polizei verdeutliche den wachsenden Druck auf die Zivilgesellschaft, sagt der Memorial-Vorsitzende Jan Ratschinskij.

WOZ: Herr Ratschinskij, was genau ist beim Überfall auf Memorial vom 15. Oktober geschehen?
Jan Ratschinskij: Ich war selber nicht im Raum, als es passierte. Wir waren an diesem Tag dabei, in unseren Räumlichkeiten «Mr. Jones» zu zeigen, einen Spielfilm der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland, der auch auf der Berlinale aufgeführt wurde. Thema des Films ist die «Holodomor» genannte Hungersnot in der Sowjetunion der 1930er Jahre unter Josef Stalin. Vorab hatte uns das russische Aussenministerium bestätigt, dass es keine Einwände gegen die Filmvorführung habe. Im Saal war es fast dunkel, die einzige Lichtquelle war der Filmprojektor. Plötzlich schrie jemand: «Alle auf den Boden legen!» Dann ging das Licht an, und man sah eine Gruppe junger, grösstenteils maskierter Leute auf der Bühne stehen. Und die blieben während etwa fünfzehn Minuten dort und beschimpften die Zuschauer:innen.

Wie haben Sie in dieser Situation reagiert?
Wir riefen die Polizei, und die traf sehr schnell ein. Was dann passierte, hatten wir nicht erwartet: Die Beamten kümmerten sich kaum um die Täter, auch wenn, wie wir später erfuhren, drei von ihnen angeblich festgenommen wurden. Wir, die Mitglieder von Memorial und die Besucher:innen der Vorführung, wurden von der Polizei hingegen während sechs Stunden in unserem Gebäude festgehalten. Niemand konnte raus, niemand rein. Die Beamten hatten den Eingang mit Handschellen zugeschlossen. Plötzlich stand also nicht mehr der Angriff auf uns im Interesse der Polizei, sondern wir, die Opfer dieses Überfalls. Die Polizei nutzte den Anlass, um uns zu kontrollieren: Sie wollte Zugang zu unseren Computern und nahm den Videorekorder mit, auf dem aufgezeichnet ist, wer unser Gebäude betreten hat.

Was wissen Sie über die Leute, die Sie überfallen haben?
Es waren mehrheitlich junge Männer, nur eine Frau war unter ihnen. Es wurden – auch in der Presse – unterschiedliche Vermutungen darüber laut, wo man diese Leute verorten könne. Einige meinten, es seien Leute von der «Jungen Garde» der Partei Einiges Russland gewesen. Ich weiss nicht, wer den Tätern den Auftrag gegeben hat, unsere Veranstaltung zu stören. Allerdings gibt es gewisse «Zufälligkeiten», die für sich sprechen: So war bei dieser Vorstellung auch ein Kamerateam des staatlichen Propagandasenders NTW im Saal, und die Polizei war ausnahmsweise sehr schnell vor Ort. Nur wenige Stunden vor der Vorführung war anscheinend gegen den Film Anzeige erstattet worden. Inhalt und Urheber dieser Anzeige sind uns nicht bekannt. Das war nicht der erste Überfall auf uns, aber derartige «Zufälligkeiten» hatte es zuvor noch nicht gegeben. Das ist eine neue Qualität der staatlichen Repressionen.

Sie bezeichnen NTW als Propagandasender.
Ja, mehr noch. NTW führt auch Aufträge der Geheimdienste aus. Der Sender zeigt Filme, die ohne unser Wissen über uns gemacht wurden, und spielt abgehörte Telefonate ab. Zwar gibt es Derartiges auch bei Rossia 24 und Ren TV, doch bei weitem nicht im selben Umfang wie auf NTW.

Wissen Sie, was schliesslich mit den Angreifer:innen passierte?
Drei der Angreifer sollen am 15. Oktober festgenommen worden sein. Doch bis heute ist nicht klar, was mit ihnen weiter geschehen ist. Wir wissen nicht, ob sie in Haft sind oder ob gegen sie Anklage erhoben wurde. In der Woche nach dem Überfall erhielten wir im Büro aber Besuch von der Polizei, genauer von der Abteilung Wirtschaft und Korruption. Diese verlangt von uns eine Dokumentation unserer gesamten Arbeit der letzten 31 Jahre. Wir sollen alle Leute nennen, die in dieser Zeit bei uns gearbeitet haben. Das ist eine unsinnige Forderung, und ich hoffe, dass die Polizei davon wieder Abstand nimmt.

Normalerweise führt Memorial am 29. Oktober russlandweit jeweils die Aktion «Rückgabe der Namen» durch. In diesem Jahr wurde die Veranstaltung in Moskau erstmals abgesagt – wie kam es dazu?
Die «Rückgabe der Namen» ist ein wichtiger Gedenktag, der seit 2007 in verschiedenen Städten begangen wird. In Moskau verlesen wir nur wenige Hundert Meter von der früheren KGB-Zentrale entfernt von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends die Namen jener, die in der Stalin-Zeit erschossen wurden. Jede:r Teilnehmer:in liest einen Namen vor. Wir organisieren die Aktion, aber es beteiligen sich immer viele Einwohner:innen Moskaus daran. Dieses Jahr konnten wir das in Moskau nicht machen, weil am 28. Oktober ein Coronalockdown begann. An anderen Orten Russlands galt der Lockdown erst ab dem 30. Oktober.

Bei der Arbeit von Memorial geht es zum grossen Teil um eine Aufarbeitung der sowjetischen Stalin-Zeit. Warum empfinden die Regierenden dies heute noch als Provokation?
Russlands Machthaber wollen das Land als Grossmacht mit grossartiger Geschichte inszenieren. Wir sind die Besten, wir sind im Besitz der Wahrheit, wir – und nur wir – sind immer für Gerechtigkeit, wir sind das Gottesträgervolk*, so lautet das Narrativ. Deswegen müsse man bei allen Unzulänglichkeiten der sowjetischen Machthaber begreifen, dass die anderen noch schlimmer gewesen seien. Wir von Memorial bemühen uns um Aufarbeitung auch der dunklen Kapitel unserer Geschichte. Und das gefällt den Machthabern nicht.

Wie verhalten sich denn die russischen Medien zur Arbeit von Memorial?
Eine sachliche Berichterstattung über unsere Arbeit habe ich in den letzten Jahren im staatlichen Fernsehen nicht erlebt. Alle staatlichen Fernsehkanäle hetzen gegen uns sowie grundsätzlich gegen Andersdenkende und Minderheiten. In der Atmosphäre dieses von den staatlichen Medien geschürten Hasses wird diese Repression überhaupt erst möglich.

Würden Sie sagen, die Repression hat in den letzten Jahren zugenommen?
Ja. In Russland gibt es schon seit Jahren keine richtige Versammlungsfreiheit. Sogar Einpersonenaktionen, die von Gesetzes wegen erlaubt sind, werden oft von der Polizei beendet. Viele Organisationen, darunter Memorial, wurden als «ausländische Agenten» kategorisiert, andere gar für unerwünscht oder extremistisch erklärt und gänzlich verboten.

* Anmerkung der Redaktion: Mit der Ethnisierung religiöser Vorstellungen wird die Vorstellung suggeriert, Gott sei Russe.

Der Menschenrechtler

Jan Ratschinskij (63) arbeitet seit 1988 für die Menschenrechtsorganisation Memorial und ist seit 2018 deren Vorsitzender. Er ist unter anderem verantwortlich für die Datenbank der Opfer der stalinistischen Repressionen. Der in Moskau lebende Ratschinskij ist auch Autor eines 600-seitigen Nachschlagewerks zu den Moskauer Strassennamen.

Der Mathematiker und Programmierer hat als Beobachter für verschiedene Menschenrechtsorganisationen Konfliktgebiete in Armenien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Inguschetien, Nordossetien und der Republik Moldau besucht.