Unruhen in Kolumbien: Krieg gegen die Armen in Zeiten der Pandemie

Nr. 19 –

Seit Wochen demonstrieren die Menschen in Kolumbien gegen die von Präsident Iván Duque angekündigte Steuerreform. Es ist schon die dritte Protestwelle gegen dessen neoliberale Politik und die Polizeigewalt.

Anders als üblich ist nicht die Hauptstadt Bogotá das Zentrum der Ausschreitungen. Die Unruhen, die seit Ende April in Kolumbien herrschen, werden am heftigsten in Cali im Westen des Landes ausgefochten, und dort im Stadtteil Siloé. In dem Armenviertel auf einem Hügel der rund zwei Millionen EinwohnerInnen zählenden Stadt sind die Wohnverhältnisse schon immer prekär und beengt gewesen. In den vergangenen Monaten wurde es dort noch viel enger. Tausende Flüchtlinge kamen aus den umliegenden Provinzen Chocó, Cauca, Valle del Cauca und Nariño hinzu. Denn dort, im weitgehend unerschlossenen Dschungel, wo hauptsächlich Afrokolumbianer und Indígenas leben, herrscht noch immer Krieg gegen die Armen.

Während der Coronakrise mit ihren Ausgangssperren haben sich in dieser Region die seit Jahren operierenden ultrarechten paramilitärischen Gruppen weiter ausgebreitet. Sie wollen die Kontrolle über die Kokaplantagen und Drogenlabore sowie über die reichen Bodenschätze, über das Gold, aber auch das Silber, Kupfer und Wolfram. Die Paramilitärs möchten diese Schätze in illegalen Minen selbst ausbeuten; sie vertreiben aber auch die Zivilbevölkerung, um das Gebiet für internationale Rohstoffkonzerne freizuhalten. Nirgendwo auf der Welt gibt es mehr Morde an Umweltschützerinnen, Menschenrechtlern und Mitgliedern von Gemeindeverwaltungen als hier. Allein in diesem Jahr gab es schon mindestens 35 Massaker an der Zivilbevölkerung. Der Staat ist in der Region nicht präsent.

Einziger Schutz der Zivilbevölkerung sind meist die linken Guerillaeinheiten des Nationalen Befreiungsheers ELN und der DissidentInnen der Revolutionären Streitkräfte der Farc, die sich nicht an den 2016 geschlossenen Friedensvertrag halten, weil dieser von der Regierung von Anfang an sabotiert wurde. Wenn doch einmal eine Militäreinheit in das Dschungelgebiet eindringt, geht auch sie gegen die ZivilistInnen vor. Diese gelten der Armee als SympathisantInnen von ELN und Farc-Dissidenten. Vor diesem Krieg flohen Tausende nach Siloé.

Allein in den ersten Tagen der Proteste wurden in dem Armenviertel vier junge Männer von der Polizei erschossen. Danach entlud sich die Wut der Bevölkerung über die kommunale Polizei. Ein Posten wurde überfallen, vierzig dort gefangen gehaltene DemonstrantInnen wurden befreit. Ein weiterer Posten wurde niedergebrannt. Die BeamtInnen zogen sich daraufhin aus Siloé zurück. Seither ist der Stadtteil mit Barrikaden abgeriegelt.

Immer mehr Menschen hungern

Auslöser der Proteste war eine Steuerreform, die der rechte Präsident Iván Duque ins Parlament eingebracht hatte. Er hatte während der Coronakrise dabei geholfen, Grossunternehmen mit Millionen US-Dollar aus der Staatskasse über Wasser zu halten. Den Armen aber, die von informellen Beschäftigungen leben, wurde mit vom Militär durchgesetzten Ausgangssperren die Möglichkeit genommen, auf der Strasse ein wenig Geld zum Überleben zu verdienen. So hat sich im vergangenen Jahr der Anteil der Armen landesweit von rund 36 auf 42 Prozent, derjenige der Hungernden von 10 auf 15 Prozent erhöht. Allein in Bogotá mit seinen gut acht Millionen EinwohnerInnen hat sich der Anteil der Menschen in extremer Armut von 4 auf 13 Prozent mehr als verdreifacht.

Das durch die Zuwendungen an Grossunternehmen im Haushalt entstandene Loch sollten nach Duques Vorschlag vor allem die Armen und die Mittelschicht stopfen. Es nutzte nichts, dass der Präsident am vierten Tag der Proteste seine Steuerreform zurückzog und am fünften sein Finanzminister Alberto Carrasquilla zurücktrat. Die Proteste weiteten sich aus. Demonstriert wird nicht nur in den grossen Städten. Auch Landgemeinden wurden von der Bevölkerung mit Barrikaden gegen Übergriffe der Polizei abgeriegelt, die wichtigsten Überlandstrassen werden mit Lastwagen blockiert.

Die Steuerreform war lediglich der Auslöser der Proteste. Sie richten sich genauso gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung, die Kolumbien zu einem der Länder in Lateinamerika gemacht hat, wo die soziale Ungleichheit am gravierendsten ist. Es geht gegen die geplante völlige Privatisierung des Gesundheitswesens, gegen den wegen der Gebühren faktischen Ausschluss armer Kinder vom höheren Bildungswesen, gegen die Sabotage des Friedensprozesses durch die Regierung, gegen die Hunderte von Todesschwadronen begangenen Morde, für die der Staat niemanden zur Verantwortung zieht. Und es geht gegen die ausufernde Polizeigewalt. So sind zahlreiche Fälle verbürgt, in denen PolizistInnen das Feuer auf unbewaffnete DemonstrantInnen eröffneten. Ganze Stadtviertel werden von Helikoptern aus mit Tränengasgranaten beschossen. Mindestens dreissig Menschen wurden bereits erschossen, über tausend wurden verletzt, mehr als hundert sind spurlos verschwunden.

Menschenrechtsorganisationen bis hin zum Menschenrechtskommissariat der Vereinten Nationen haben Duque aufgefordert, der Polizeigewalt ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen für die begangenen Morde zur Rechenschaft zu ziehen. Bislang aber wird nur gegen einen einzigen Polizisten ermittelt.

Die dritte Welle

Duque hatte gehofft, im Schatten der wütenden dritten Welle der Pandemie könnte er seine Steuerreform ohne Gegenwehr durchsetzen. Dabei hätte er gewarnt sein können. Schon im November 2019 war wochenlang gegen diese neoliberale Politik demonstriert worden. Und selbst im September vergangenen Jahres, mitten in der Coronakrise, war es in Bogotá zwei Tage lang zu Ausschreitungen gekommen. Auslöser war damals der Tod eines jungen Mannes, der die Ausgangssperre ignoriert hatte und von PolizistInnen mit Elektroschocks aus Tasern zu Tode gequält worden war. In den zwei folgenden Nächten erschossen die Sicherheitskräfte zehn Menschen.

Auch diesmal scheint Duque darauf zu setzen, dass sich der Widerstand mit Repression unterdrücken lässt. «Mich schmerzen die niedergebrannten Mautstationen», twitterte er. Kein Wort zu den Toten. Sein politischer Ziehvater, der bis 2010 amtierende Präsident Álvaro Uribe, verbreitet unterdessen über Twitter Verschwörungstheorien. Er schrieb vom «Recht der Soldaten und Polizisten, ihre Waffen zu benutzen, um sich gegen Terroristen zu verteidigen». Die Proteste seien nicht spontan. Dahinter steckten der «castrochavismo» und eine Strategie der «molekularen Revolution»: Die Demonstranten würden von einzelnen eingeschleusten Agentinnen von Guerillas und Drogenbanden aufgestachelt und bezahlt, um auf diesem Weg eine sozialistische Diktatur zu errichten. Beweise dafür hat er nicht, und Elizabeth Dickinson, die Kolumbienanalystin des Thinktanks International Crisis Group, sagt: «Niemand kann auch nur einigermassen glaubwürdig behaupten, irgendeine bewaffnete oder kriminelle Gruppe würde die Proteste motivieren oder erzwingen.»

Wegen der Repression ist es wahrscheinlich, dass die Proteste demnächst erlahmen. Aber sie werden wieder aufflammen. Denn auf die dritte Coronawelle wird eine vierte folgen. Und die bewaffneten Verbände von ELN und Farc-DissidentInnen, die im Dschungel westlich von Cali unterwegs sind, werden durch den Krieg gegen die Armen Zulauf bekommen.