Blick einer Zugewanderten: Sturmgewehr und Säbel

Nr. 5 –

Dass das Frauenstimmrecht in der Schweiz erst nach langem, zähem Ringen eingeführt wurde, hat unmittelbar mit der direkten Demokratie zu tun.

Wer ein fremdes Land besucht, interessiert sich meist nicht als Erstes dafür, wann dort eigentlich das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde. So war mir, als ich in den sechziger Jahren als Schülerin das Privileg hatte, die Sommerferien in der Schweiz zu verbringen, sicher nicht bewusst, dass die Frauen im bezaubernden Gastland nicht wählen durften. Ganz davon abgesehen, dass mich so was damals noch nicht interessierte.

Als ich zu Beginn der achtziger Jahre einwanderte, verfügten die Frauen des Landes zwar über das Stimm- und Wahlrecht, doch dass das erst seit neun Jahren der Fall war, wusste ich nicht. Wie vielen Deutschen schien mir die Schweiz eine friedliche Variante unserer Heimat: Hier war man politisch neutral, und das war mir sympathisch. Mein überraschungsreicher Lernprozess begann, als ich erstmals das Sturmgewehr im Kleiderschrank sah und der Mann meines Herzens mit selbigem zum jährlichen Wiederholungskurs in die Armee einrückte. Das sei eben die bewaffnete Neutralität, erfuhr ich.

Im Sinn der Gattin

Als ich diesen Mann heiratete, um in der Schweiz bleiben und arbeiten zu können, durften die Frauen des Landes abstimmen, doch das Eherecht stammte noch von 1907. Bei der Eheschliessung erhielt eine Frau laut ZGB automatisch das «Bürgerrecht des Ehemannes», des «Hauptes der Gemeinschaft». Zu seinen Rechten und Pflichten gehörte, «die eheliche Wohnung» zu bestimmen und für den «Unterhalt von Weib und Kind» zu sorgen. Zu ihr hiess es lapidar: «Sie führt den Haushalt.» Um «einen Beruf oder ein Gewerbe auszuüben», benötigte sie seine «ausdrückliche oder stillschweigende Bewilligung».

Unter diesen Bedingungen wurde ich also Bürgerin von Wolfhalden in Appenzell Ausserrhoden. Den deutschen Pass dürfe ich aber behalten, sagte der freundliche Standesbeamte, schliesslich werde ich ja zur Schweizerin gezwungen. Erst 1988 wurde – gegen den heftigen Widerstand von Christoph Blocher – mittels Volksabstimmung ein moderneres Eherecht eingeführt.

Ich beteiligte mich von Anfang an aktiv an Wahlen und Abstimmungen, und da ich in Zürich wohnte, merkte ich zuerst gar nicht, dass ich das in meinem neuen «Heimatkanton» gar nicht hätte tun können, denn Appenzell Ausserrhoden führte das Frauenstimmrecht erst 1989 ein, ein Jahr bevor das Bundesgericht dem Geschwisterhalbkanton Innerrhoden dasselbe befahl.

Es muss noch vor dieser Abstimmung gewesen sein, als ich bei einem Familientreffen feststellte, dass eine meiner neuen Verwandten nur knapp fünf Kilometer von meinem saarländischen Heimatort entfernt aufgewachsen und wie ich selbst per Heirat Appenzellerin geworden war. Also begann ich munter mit ihr ein Gespräch über die bevorstehende Abstimmung – ich unterrichtete inzwischen Schweizer Lernende im Fach Staatskunde – und musste um Fassung ringen, als sie sagte, natürlich stimme sie Nein!

Ausführlich und freundlich erklärte sie mir, dass das niemand von auswärts verstehen könne. Hier sprächen die Eheleute noch miteinander, ein anständiger Mann stimme ja sowieso im Sinn seiner Gattin ab, und die, die jetzt das Frauenstimmrecht erzwingen wollten, stammten alle nicht aus dem Kanton. Und es sei eine so schöne Tradition, wenn die Männer mit dem Säbel zur Landsgemeinde gingen und die Frauen von aussen zuschauen könnten, besonders bei schönem Wetter, und so weiter und so fort. Da mir viel daran lag, in dieser Familie nicht gleich als eingeheiratete ausserkantonale Emanze angesehen zu werden, blieb ich ruhig.

Bis dahin hatte ich mich noch nie genauer damit befasst, wann eigentlich andere Länder das Frauenstimmrecht eingeführt hatten. Selbst die Jahreszahl 1918 für Deutschland kannte ich nicht – es war einfach so, dass Frauen wählen durften. Auch wenn sie es oft nicht taten.

Die Macht teilen

Nun reihte ich mich für einige Jahre in den kopfschüttelnden Reigen ein, wo man sich überlegen lächelnd einig war, dass es kaum etwas Rückständigeres gebe als das Schweizervolk. Doch mit jeder Volksabstimmung, die ich erlebte, wuchs in mir eine Ahnung davon, wie schwer dieser Kampf für die Schweizer Frauen gewesen sein muss. Denn während in anderen Ländern das Frauenstimmrecht per Dekret durch Parlamente und Regierungen eingeführt worden war, musste in der Schweiz die Mehrheit der stimmberechtigten Männer von dessen Notwendigkeit überzeugt werden – und deren Frauen noch dazu, denn auch unter ihnen gab es jede Menge, die so dachten wie meine neue Verwandte aus dem Appenzell.

Regierungsparteien haben grundsätzlich ein Interesse an weiblichen Stimmen, stärken diese doch im Zweifelsfall ihre Macht. In der Schweiz hingegen ging es darum, das versammelte Patriarchat dazu zu bringen, die Macht zu teilen. Und das in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der ein reaktionäres Geschlechterbild geradezu leidenschaftlich zelebriert wurde.

So kann mich die Vorstellung, wie erniedrigend es sich angefühlt haben muss, unzählige bockende Männer immer wieder darum bitten zu müssen, endlich mitbestimmen zu dürfen, noch heute erzürnen. Für das Durchhaltevermögen und die politische Gewitztheit der kämpfenden Frauen fühle ich hingegen nur noch Hochachtung.