Asylpolitik: Ausgeliefert im Bunker

Nr. 15 –

Auch Wochen nach dem Lockdown bleiben Geflüchtete unzureichend geschützt. Die Verfahren laufen derweil weiter – notfalls auch ohne Rechtshilfe. Das grosse Versprechen der Asylgesetzrevision ist damit obsolet.

Weder Tageslicht noch frische Luft: Handyfoto eines Bewohners aus dem Nothilfebunker Urdorf (2017).

Der Befehl kam vom Oberfeldarzt persönlich: Um die Gesundheit der Truppe auch in der Coronakrise zu garantieren, verbot er die Nutzung unterirdischer Unterkünfte. Statt Bunker empfahl er «grosse Räume mit Tageslicht und Lüftungsmöglichkeiten». Laut einem Merkblatt soll der Abstand zwischen den SoldatInnen «mindestens zwei Sturmgewehrlängen (ausgeklappt)» betragen.

Was sich für die Armee offenbar schnell umsetzen liess, wird Geflüchteten verwehrt: Einige von ihnen müssen weiterhin in Bunkern leben. Dies zeigt ein Blick nach Urdorf im Kanton Zürich. Rund vierzig Männer, deren Asylgesuche abgewiesen wurden, wohnen dort unter der Erde. Tageslicht oder frische Luft: Fehlanzeige.

Leben wie Gefangene

Wie gefährlich die Verhältnisse in Urdorf sind, zeigt ein Video, das der WOZ vorliegt. «Wie kann man da Abstand halten?», fragt ein Bewohner, während seine Kamera durch Schlafräume gleitet, in denen sich weder Hygieneweisungen noch Distanzvorschriften einhalten lassen: Sechs bis zehn Personen teilen sich knappe zwölf Quadratmeter.

Seit Wochen suggerieren die Zürcher Behörden, sie hätten alles im Griff. Massnahmen seien «rechtzeitig» getroffen worden, schrieb die Sicherheitsdirektion Ende März. Die BewohnerInnen würden laufend informiert, in allen Zentren seien «Isolierzimmer» eingerichtet worden. Farid Kateb* sieht das anders: «In Urdorf ist es schlimm wie immer, wir leben hier wie Gefangene, unsere katastrophale Situation interessiert niemanden.» Ein Isolierzimmer sei zwar vor dem Bunker aufgestellt worden – doch man könne ja niemanden darin einsperren.

Jela Kistler kennt Urdorf seit Jahren. Sie gehört dem Bündnis «Wo Unrecht zu Recht wird» an, das die BewohnerInnen der Zürcher Notunterkünfte (NUK) berät. Seit die Behörden Mitte März jeden Besuch verboten haben, kann Kistler die Männer nur draussen treffen. Die Situation sei in den letzten Wochen kaum besser geworden, sagt auch sie. Im Gegenteil: «Statt den Bunker zu schliessen, werden weiterhin Personen nach Urdorf transferiert.» Die Behörden seien nicht gewillt, vom repressiven Regime abzuweichen: «Man nimmt lieber in Kauf, dass jemand erkrankt, als zu riskieren, dass er persönlichen Nutzen aus der Krise ziehen könnte.»

Einen bestätigten Coronafall gibt es in Urdorf bisher nicht. Anders sieht es in der Zürcher NUK Adliswil aus, wo geflüchtete Familien und Frauen mit abgewiesenen Gesuchen leben, zurzeit rund siebzig Personen. Mindestens drei Familien sind bisher offiziell an Covid-19 erkrankt – und wurden nach tagelangem Zögern schliesslich in andere Einrichtungen verlegt.

«Ich fühle mich nicht sicher», sagt Renata Ravshanova, die zusammen mit ihren beiden Teenagern auf rund zwanzig Quadratmetern lebt. Nachdem erst ihre Tochter und dann sie Coronasymptome aufwiesen, wurden sie am Montag getestet. Laut den Behörden werden alle Fälle in Adliswil «konsequent isoliert», was heisst: Die Leute sollen in ihrem Zimmer bleiben. Wie das mit sanitären Anlagen draussen möglich sein soll, bleibt unklar. Inzwischen ist das Testresultat da. Es ist negativ.

Besonders zu schaffen macht Ravshanova das Essen, das nun per Catering geliefert wird. Eine ausgewogene Ernährung, die das Immunsystem stärken würde, sei unmöglich, so die 43-Jährige. Hinzu kommt: Die 8.50 Franken «Nothilfe», die jedeR pro Tag erhält, ist nach ihrer Aussage zurzeit ausgesetzt. Ravshanova, die von der Halbinsel Krim stammt, meint: «Wir fühlen uns bevormundet.»

Hilfsorganisationen hätten wochenlang versucht, auf die unverantwortliche Lage aufmerksam zu machen, sagt Jenny Steiner, die ebenfalls dem Bündnis «Wo Unrecht zu Recht wird» angehört. Getan hätte sich wenig. Angesichts der zu späten Bemühungen, erkrankte BewohnerInnen richtig zu isolieren, fürchtet Steiner nun eine «nicht endende Quarantänesituation». Ähnliche Sorgen äusserten zuletzt auch mehrere zuständige ÄrztInnen.

Aktivismus bei Verfahren

Dass die Situation in den «Rückkehrzentren» zwar am prekärsten, die beiden Zürcher Lager aber längst keine Einzelfälle sind, zeigen Medienberichte aus der ganzen Schweiz: Demnach herrschen von Basel über den Aargau bis nach Luzern ähnliche Zustände, neben den kantonalen Unterkünften auch in jenen des Bundes. Während in Zeiten der Krise in vielen Bereichen Lösungen gefunden werden, soll das Asylregime um jeden Preis aufrechterhalten werden. «Man betrachtet offensichtlich nicht alle Menschen als gleich schützenswert», sagt Jenny Steiner.

So wenig den Bund und die Kantone die Lage in den Unterkünften interessiert, so gross ist ihr Aktivismus bei den Asylverfahren. Mitte März richtete die Freiplatzaktion Basel einen dringlichen Appell an den Bund. Pandemiebedingt könne sie die Geflüchteten bei ihren Rekursen nicht mehr genügend unterstützen. Die Rechtsberatungsstelle forderte deshalb, die Verfahren zu sistieren. Weitere Organisationen schlossen sich an. Tatsächlich geschah das Gegenteil: Vergangene Woche gab Justizministerin Karin Keller-Sutter bekannt, die Verfahren weiterlaufen zu lassen – notfalls auch ohne Rechtsvertretung.

Den Verfasser des Appells ärgert diese Entwicklung. «Der Bund schiebt die Verantwortung für die Teilnahme an den Anhörungen an die Rechtsvertretungen ab», sagt Moreno Casasola. Nun müssten diese entscheiden, ob sie die Gesundheit der Beteiligten oder den Rechtsschutz der Asylsuchenden höher gewichten.

Kritik übt auch Samuel Häberli. «Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass es keine unabhängige Hilfsvertretung bei den Anhörungen gibt», sagt der Geschäftsleiter der Freiplatzaktion Zürich. Als Ersatz dafür würde auf die Ausweitung der Beschwerdefrist verwiesen. «Die Anhörung, also die Grundlage für den Asylentscheid, kann man damit aber nicht kompensieren», sagt Häberli. Die Massnahme torpediere daher den Rechtsschutz.

«Unhaltbar» findet den Entscheid auch die Basler SP-Nationalrätin Samira Marti. Das Zugeständnis eines Rechtsbeistands sei schliesslich der Grund, warum ihre Partei dem neuen Asylgesetz überhaupt zugestimmt habe. Für Marti zeigt sich eine gefährliche Tendenz: «Ausgerechnet in einem Krisenmoment wird das Recht ausgehöhlt.» Das revidierte Asylgesetz, das letzten März in Kraft trat, brachte neben einer kostenlosen Rechtsberatung auch beschleunigte Verfahren und kürzere Rekursfristen und wurde dafür von Hilfsorganisationen von Anfang an kritisiert.

Die Realität von Mario Fehr

Gerne hätte die WOZ mit der Zürcher Sicherheitsdirektion über die Situation der Geflüchteten geredet. Statt den ausführlichen Fragenkatalog zu beantworten, verweist diese aber bloss auf wolkige Pressemitteilungen. Inzwischen fordert auch die SP die Schliessung von Urdorf – was die Sicherheitsdirektion zum Reagieren bewegte. Am Dienstag bezeichnete sie die Forderung als «verfehlt» – und zitierte einen zufriedenen Regierungsrat Mario Fehr (auch SP): «Wir haben das Bestmögliche für die Menschen im Asylwesen erreicht.»

Mit diesen Menschen gesprochen hat Fehr offenbar nicht. Nach einem Besuch in Adliswil letzte Woche postete er auf Facebook ein Bild, auf dem er in Zwei-Meter-Abstand mit Mitarbeitenden posiert. «Warum haben Sie die Bewohner nicht gefragt, wie sie sich in diesen Zeiten fühlen?», schrieb Renata Ravshanova unter das Bild. Inzwischen ist der Kommentar gelöscht.

* Name geändert.