Victoria Lomasko: Die Verrückte mit dem Zeichenblock

Nr. 39 –

In der Ausstellung «Other Russias» nimmt Victoria Lomasko die BesucherInnen auf eine Russlandreise abseits der gängigen Klischees mit. Auf einem Rundgang erklärt sie ihr Werk.

«Die Absurdität kennt keine Grenzen»: Victoria Lomasko in ihrer Ausstellung im Cartoonmuseum Basel. Foto: Derek Li Wan Po

Wer das andere Russland sehen will, muss sich ins Innere eines Käfigs begeben. Dicke schwarze Gitterstäbe zieren den Eingang zu «Other Russias», der Retrospektive der Künstlerin Victoria Lomasko, die zurzeit im Cartoonmuseum Basel zu sehen ist. Gut gelaunt empfängt die 41-Jährige am Eingang ihrer Ausstellung. Einen Monat weilt sie in der Stadt – und findet es unerträglich. In Basel scheine die Ordnung schon vor zweihundert Jahren hergestellt worden zu sein, seither werde alle fünf Minuten der Staub weggewischt. «Wie in einem bourgeoisen Hotel.»

Klischees scheinen Lomaskos Spezialgebiet zu sein: In ihrer Ausstellung spielt sie mit den westlichen über Russland. Bei Kunstschaffenden aus Österreich oder Italien würden die Arbeiten selbst in den Vordergrund gerückt, sagt sie. Sie hingegen werde oft als politische Aktivistin präsentiert – ein Etikett, von dem Lomasko wenig hält. «Aber wenn die Leute auf so etwas warten, dann sollen sie es auch bekommen. Wir reproduzieren also jene Bilder, die viele von Russland haben: etwa dass es dort schrecklich gefährlich ist.» Deswegen auch der Käfig.

Von der Beobachtung zur Kritik

Wer es einmal ins Innere geschafft hat, findet auf drei Stockwerken einen Ausschnitt aus dem russischen Alltag. Ziemlich düster geht es darin zu und manchmal trist – aber auch hoffnungsvoll. Lomaskos Grafikreportagen dokumentieren nämlich auch, wie in dem autoritär regierten Land alte Gewissheiten ins Rutschen geraten.

Am Anfang aber wird die Käfigmetapher weitergesponnen. In Russland müssen Angeklagte vor Gericht in einem Käfig Platz nehmen, entsprechend finden sich im ersten Saal Zeichnungen aus Gerichtsprozessen. «Irgendwann wurde das Blatt Papier für mich zum Artefakt, zu einem Stück Geschichte, das sich nicht austauschen lässt», beschreibt Lomasko ihren Ansatz. Sie steht vor einem Bild über den Prozess gegen die Veranstalter der Ausstellung «Verbotene Kunst», in dem die engen Grenzen der Kunstfreiheit verhandelt wurden. Auch das Verfahren gegen die feministischen Punkerinnen von Pussy Riot hat sie dokumentiert. Die schwarze, zerfliessende Tinte lässt die Szenerie so surreal erscheinen, wie es die politisch motivierten Prozesse gegen Oppositionelle in Russland sind. «Die Absurdität kennt keine Grenzen», sagt Lomasko.

Was sich in der Retrospektive besonders gut verfolgen lässt, ist Lomaskos Wandlung: Aus einer beobachtenden Position, einer Mischung aus Comic, Reportage und Tagebuch, wird scharfe Herrschaftskritik. «Soziale Grafik» nennt Lomasko das Produkt. Sich selbst bezeichnet sie als «Verrückte mit Zeichenblock». In ihren Werken bewegt sich die Künstlerin als Späherin zwischen den Figuren, kundschaftet Szenen aus, die einem Fotografen oder einer Journalistin verborgen bleiben. Dennoch wird für Lomasko der Text immer wichtiger: als szenische Vertiefung ihrer Bilder. «Visuelle Essays» nennt die Kunsttheoretikerin Sandra Frimmel das Ergebnis im Begleittext zur Ausstellung. Lomaskos Geschichten gewinnen damit eine zweite Ebene.

Wer überhaupt protestieren kann

Mit Kunst ist Lomasko schon in ihrer Kindheit in Berührung gekommen. Ihr Vater, selbst Maler, produzierte Propagandamaterial für das Regime und legte seiner Tochter nahe, ebenfalls Künstlerin zu werden. Lomasko ist in Serpuchow südlich von Moskau aufgewachsen. Sie weiss also auch, wie das Leben abseits der Hauptstadt verläuft. Im zweiten Stock ihrer Ausstellung finden deshalb jene Gehör, die durch das Raster des öffentlichen Interesses fallen: der Junge aus der Provinzdorfschule und die Frauen, die geheime Lesbenclubs in St. Petersburg aufsuchen; Sexarbeiterinnen und oppositionelle DemonstrantInnen; die jugendlichen Insassen einer Strafkolonie und die Wanderarbeiter – die «Unsichtbaren und Zornigen», wie Lomasko sie nennt. Es sei nicht so, dass es die «normale Gesellschaft» auf der einen und die Unsichtbaren auf der anderen Seite gebe, sagt sie. «In Russland sind wir alle füreinander unsichtbar.»

Wer mit ihr durch die Ausstellung geht, merkt schnell, wie sehr der Künstlerin ihre ProtagonistInnen ans Herz gewachsen sind, so liebevoll erzählt sie von ihnen. Ihre Lieblingshelden seien die LKW-Fahrer, die 2017 aus allen Himmelsrichtungen angereist waren, um vor den Toren Moskaus gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu protestieren, und deren Streiklager Lomasko immer wieder besucht hat: Weil sie gezeigt hätten, wie rasant sich die Dinge ändern können.

Am Anfang hätten die LKW-Fahrer nicht verstanden, wie politisch ihre Forderungen waren. Sie verachteten die Opposition, hassten die Feministinnen und die LGBT-Community – und sie setzten ihre Hoffnungen auf Präsident Putin. «Aber auf einmal brach ihr ganzes Wertesystem zusammen, sie sahen, dass Anarchisten und Liberale ihre wahren Freunde sind», sagt Lomasko lachend. Letztlich gehe es immer um Chancen – wo bietet sich überhaupt Gelegenheit zum Protest? Auch habe man in der Provinz nicht den gleichen Zugang zu Informationen wie die Intelligenzija in Moskau. «Doch oft reicht ein Monat aus – und sie sind die krasseren Aktivisten.»

Das Bild von Russland brechen, die Realität der Porträtierten darstellen, sie aber nicht blossstellen, weil sie nicht dem klassischen Bild eines kultivierten Moskauer Oppositionellen entsprechen: Das macht Victoria Lomaskos Kunst so besonders. In der Tradition der frühsowjetischen Reportage will sie politische Meinungen formen. Propaganda im eigentlichen Sinn. Ihre «figurative Kunst» beziehe sich auf die Gegenwart, sagt sie – wie jene der Muralisten Diego Rivera oder David Siqueiros, die nach der mexikanischen Revolution in den zwanziger Jahren sozialkritische Wandmalereien fertigten.

Wer ist Opfer, wer Täter?

Die internationale Dimension ist Lomasko in ihrem Werk wichtig. «Ich bin keine Künstlerin, die hilflos ist, sobald man sie aus Russland rausnimmt.» Für die Bilder im dritten Stock ist sie in den postsowjetischen Raum gereist, nach Georgien und Kirgisistan, in den Nordkaukasus. In eine Welt im Wandel. Auf ihren Reisen hat sich Lomasko stets dieselben Fragen gestellt: Wie hat sich die Gesellschaft nach dem Ende der Sowjetunion verändert? Und was passiert mit dem sowjetischen Erbe? Die Unsichtbaren in diesem Zyklus sind etwa die Frauen in den Bergdörfern von Dagestan, in denen die Beschneidung weiblicher Genitalien noch praktiziert wird.

Selten hat man sich in einer Ausstellung einem Land so annähern können: dem anderen Russland, dessen Menschen hinter geopolitischen Scharmützeln und den Bildern der Repression verschwinden. Letzterer hat Lomasko eine Wandmalerei gewidmet, die sie während ihrer Zeit in Basel malte und die die Gewalt in der Gesellschaft dokumentiert. «Ich habe mich gefragt, wo ihre Wurzeln liegen», erklärt sie. In Russland liessen sich Opfer und Täter oft kaum voneinander unterscheiden, dieselbe Person kann beides sein. Wie in ihrem ganzen Werk hat Lomaskos Kunst auch hier eine soziologische Komponente. Sie zeigt ein Russland abseits der Klischees.

Die Ausstellung «Other Russias» ist noch bis zum 10. November 2019 im Cartoonmuseum Basel zu sehen.