Stuben und Kommunen: Das offenste Wohnzimmer der Stadt

Nr. 16 –

Der Verein La Red hat aus einem abbruchreifen Haus am Stadtrand von Fribourg einen interkulturellen Begegnungsort gemacht. Nach drei Jahren steht der Umzug ins Zentrum bevor.

Mittwochs und sonntags wird im La Red gemeinsam gegessen.

Am wenigsten erwartet haben alle den Belgier. Weil man Belgier nicht in einem Französischanfängerkurs erwartet. Camille, die ehrenamtliche Lehrerin, fragt, weshalb er seine eigene Sprache nicht spreche. Er entgegnet, er sei aus Flandern und wegen seiner Freundin nach Fribourg gezogen. Ob jemand von einer freien Stelle wisse? Auch die Lehrerin ist auf Arbeitssuche. Es entspinnt sich ein Gespräch über den schwierigen Arbeitsmarkt zwischen allen Anwesenden. Über die unterschiedlichen Sprachniveaus hinweg. Die anderen sechs SchülerInnen sind aus Sri Lanka, Afghanistan und Äthiopien. Damit alle profitieren können, hält sich der Afghane zurück. Denn er kennt die Lösungen jeder einzelnen Multiple-Choice-Aufgabe.

Französisch, Arabisch, Deutsch

Die Tür ist mit «French Class» beschriftet, aber im einzigen Schulzimmer von La Red wird auch Arabisch und Deutsch unterrichtet. SchülerInnen und LehrerInnen wechseln, nicht nur nach Fach, sondern auch von Lektion zu Lektion. Die Worttabellen an der Wand erinnern an ein Primarschulzimmer – hier sind sie mit Malerklebeband befestigt. Im Parterre befindet sich der Kern von La Red, das eigentliche Wohnzimmer.

Der Belgier muss früher los. Die anderen bleiben zum Essen, denn heute ist Mittwoch. Mittwochs und sonntags wird gemeinsam gegessen. La Red ist 2015 angetreten, um das «offenste Wohnzimmer der Stadt» zu schaffen. La Red, spanisch für «das Netz» oder auch für «Netzwerk», ist bewusst ohne Kopf konzipiert: Die GründerInnen ziehen sich langsam zurück, aus Überzeugung, aber auch, weil sie selbst überrascht sind, wie breit sich das Netzwerk verästelt hat. Regelmässig engagieren sich 60 Leute; von ihrer Arbeit profitieren etwa 200 BesucherInnen pro Woche. Die Verantwortung ist auf viele verteilt, damit der organisatorische Frust so gering wie möglich ist. Die FranzösischlehrerInnen organisieren sich die insgesamt neun Stunden Unterricht pro Woche per Whatsapp – darüber hinaus treffen sie sich nur alle sechs Monate zu Sitzungen.

Begegnung auf Augenhöhe

Ob in La Red jemand entspannt, unterstützt, unterrichtet oder Verantwortung trägt, hängt nicht davon ab, ob sie oder er in einer WG oder einer Asylunterkunft schläft. Die Begegnung auf Augenhöhe wird vielleicht erleichtert, weil Fribourg auf dem Röstigraben liegt. Die grosse Mehrheit der FribourgerInnen spricht Französisch als erste Sprache. Die gut 10 000 StudentInnen auf knapp 40 000 EinwohnerInnen machen Fribourg zur Stadt mit der schweizweit höchsten StudentInnenquote. Und die Uni Fribourg ist europaweit die einzige Universität, die in Verwaltung und Lehre zwei Sprachen gleichwertig behandelt. Dass man sich mit Händen und Füssen ausdrückt, ist hier normal. «In Fribourg kommt man mit Deutsch durch; mein Französisch wurde erst dank ‹em Räääd› besser», tönt es in breitem Berndeutsch am einen Ohr, während von der anderen Seite jemand die Unterschiede zwischen Farsi und Dari auf Französisch erklärt.

Etwa dreissig Leute sind an diesem Mittwoch zum Abendessen gekommen. Darunter ist auch eine Gruppe aus einem Kinderheim. Die Essenden sitzen auf Sofas, Stühlen, Treppen – bei jedem Gang zum Buffet stossen Knie aneinander. Von Linsensuppe, Reis und Gemüseauflauf gibt es reichlich. Umkämpft sind bloss die Stehplätze beim Ofen. Nazir ist 21 Jahre alt und in der Lehre zum Plattenleger. Bei La Red ist er verantwortlich fürs Essen. Dass die Essen mittwochs und sonntags stattfinden, hat praktische Gründe: Am Mittwoch ist Markt. Das Essteam von La Red fragt an den Ständen nach überschüssigem Gemüse. Beim Sonntagsessen stammt ein Teil der Ware vom Brunch eines Cafés. Brot und Dessert stammen zu einem Grossteil von der «Äss-Bar», dem Fribourger Zweig jener Ladenkette, die Überschüsse von Bäckereien günstig verkauft.

Vor dem Abriss

Als die Ersten gegangen sind, bildet sich ein Spontan-Jam. Aus der Anlage läuft Shakira; Trommeln verfremden den Mainstream-Pop. Nazir tanzt. An anderen Abenden tanzen alle. Nazir sagt, das Red existiere dank der Leute, und deshalb sorgt er sich nicht um den Fortbestand. Fribourg ist eine Kleinstadt, weshalb es auch kein Problem ist, dass das offenste Wohnzimmer der Stadt an der Grenze zur Agglomerationsgemeinde Villars-sur-Glâne liegt. Aber nicht mehr lange: Im Mai endet der Mietvertrag; das Haus wird wahrscheinlich abgerissen, und La Red zieht vom Stadtrand in einen denkmalgeschützten Bau im Zentrum. Ende März erhielt La Red den Prix du social des bürgerlich dominierten Kantons – auch die neuen Räumlichkeiten sind im Kantonsbesitz.

Im Stadtrandhaus sind die Wände bemalt und gepflastert. Auf dem Weg in den ersten Stock begegnet man einer Tapete aus Buchseiten. In die Literatur ist ein Baum, der die braune Wand dahinter freilegt, geschnitten. Oben geht zwischen Schul- und PC-Zimmer, in dem Stellensuchende bei ihren Bewerbungen unterstützt werden, ein Mosaik aus bunten Geschirrscherben von der Wand in die Decke über.

Umzug ins Stadtzentrum

Das Bildungsangebot, der Theaterkurs und das wöchentliche Treffen des tibetischen Kulturvereins können problemlos anderswo stattfinden. Das Radio Red, das momentan vom Keller ins Internet streamt, kann samt MacherInnen umziehen. Die Diaspora-Eritreer der Royal Band, die im Nebenraum proben, können ihre Instrumente auch im Zentrum auspacken. Der Kinderheimbetreuer kann seine Schützlinge künftig auch an den neuen Ort ausführen. Für manche BesucherInnen und Engagierte rückt La Red wohl näher ans Daheim. Das Netzwerk zieht ins Stadtzentrum, aber der Denkmalschutz verhindert künftig kreative Kurzschlüsse. Um 21 Uhr ist der Abwasch längst erledigt, die Hälfte der Lampen ist aus, und die letzten zehn suchen ihre Taschen. Nur Camille, die Französischlehrerin, spielt Klavier und singt dazu: «La Red c’est fini!»