Ombudsarbeit: «Der Staat wird direkt angefeindet»

Nr. 11 –

Claudia Kaufmann ist Ombudsfrau der Stadt Zürich. Im Interview spricht sie über die Auswirkungen der Sozialhilfe-Missbrauchsdebatte auf BezügerInnen und Verwaltungsangestellte, über Sprache als staatliches Machtinstrument und Racial Profiling.

Claudia Kaufmann im Zürcher Oberdorf: «Die Diskussionen um den Abbau des Sozialstaats haben sich auch bei uns auf der Ombudsstelle bemerkbar gemacht.»

WOZ: Frau Kaufmann, als Ombudsfrau der Stadt Zürich vermitteln Sie bei Konflikten zwischen Behörden und Bevölkerung. Als Sie 2004 Ihre Arbeit aufnahmen, machten Beschwerden, die das Sozialdepartement betrafen, gut zwanzig Prozent aus. Heute sind es vierzig Prozent. Arbeitet das Sozialdepartement schlechter als früher?
Claudia Kaufmann: Selbstverständlich nicht. Diese Entwicklung zeigt vielmehr, welche Bedeutung dieser Bereich in der gesellschaftlichen Debatte erhalten hat und wie viele existenzielle Fragen er für die Betroffenen aufwirft: Es geht neben wichtigen Verständnisfragen um das Recht auf Leistungen, um die Höhe, den Zeitpunkt der Ausrichtung und die Dauer des Anspruchs. Aber auch darum: «Weshalb muss ich immer wieder neue und zusätzliche Unterlagen einreichen? Wie viel muss ich tatsächlich von mir preisgeben?»

Diese Zunahme ist dennoch sehr auffällig.
Sie widerspiegelt den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs und seine realen Folgen. Kurz nachdem ich mit meiner Arbeit als Ombudsfrau angefangen hatte, wurde die Missbrauchsdebatte rund um die Sozialhilfe losgetreten. Die Diskussionen um soziale Sicherheit und den Abbau des Sozialstaats haben sich in den letzten Jahren auch bei uns auf der Ombudsstelle bemerkbar gemacht. Viele betroffene Bürgerinnen und Bürger fühlen sich durch die Polemik teils persönlich angegriffen, verunglimpft. Sie nehmen zudem den raueren Wind wahr, die verschärften Anforderungen und geringeren Leistungen. Aber auch in der Verwaltung werden immer wieder Ängstlichkeit und Verunsicherung spürbar.

Meinen Sie die Angst, falsche Entscheidungen zu treffen?
Ja, aber auch die Angst, zu grosszügig zu sein und für einen unkonventionellen, kreativen Entscheid in den Medien und in der Politik angegriffen zu werden. Dies kann auch dazu führen, dass manche sich scheuen, komplizierte und schwierige Geschäfte zeitnah anzupacken. Dieses defensive, übervorsichtige Verhalten hat sich in der Vergangenheit rasch bemerkbar gemacht. Es hat grosse Anstrengungen gebraucht, dem Gegensteuer zu geben. Eine verunsicherte Verwaltung ist immer ein schlechtes Zeichen.

Ein schlechtes Zeichen wofür?
Heute wird der Staat und damit der Rechtsstaat direkt angefeindet. Die Kritik fordert, der Staat solle gewisse Aufgaben gar nicht erst wahrnehmen, sondern abgeben, denn Private könnten das besser. Hinzu kommt ein grosses Misstrauen einzelnen Personen gegenüber, die für die Ausübung ihrer staatlichen Aufgaben an Verfassungsgrundsätze und Grundrechte gebunden sind und dabei ihr Ermessen ausüben können müssen.

Denken Sie nur an die Diskussionen um die Kesb, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, oder an den Vorschlag, Richter für ihre Urteile belangen zu können. Das ist keine kritische Auseinandersetzung mit Institutionen, wie wir sie für den Strafvollzug, den Bildungsbereich oder von der Heimbewegung der siebziger Jahre her kennen, die ja gerade mehr Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Partizipationsrechte forderte. Es zeugt vielmehr von einer Nichtbereitschaft, sich mit den Institutionen als solche auseinanderzusetzen, und ist ein direkter Angriff auf bewährte Handlungsmaximen wie das Verhältnismässigkeitsprinzip.

Ist das nicht auch Ausdruck einer Entsolidarisierung der Gesellschaft?
Ich denke, es ist eher eine naive Form der Individualisierung. Naiv insofern, als man dabei davon ausgeht, dass alle anderen diese Aufgabe besser erfüllen könnten als staatliche Institutionen, ohne sich mit den komplexen Themen ernsthaft beschäftigen zu wollen. Doch wir müssen uns in unserer Gesellschaft immer wieder mit schwierigen Fragen auseinandersetzen, die sich nicht einfach mit richtig oder falsch beantworten oder delegieren lassen. Es wird auch künftig immer wieder Fehler und Entscheide mit tragischen Folgen geben. Aber jemandem individualisiert Verantwortung zuzuweisen oder Ressourcen zu entziehen, bringt definitiv nichts. Wir entziehen uns so der Verantwortung, die wir als Gesellschaft haben.

In Ihrem letzten Jahresbericht schreiben Sie ausführlich über die Kommunikation zwischen Behörden und Bevölkerung. Ist Ihre Arbeit in gewissem Sinn auch Übersetzungsarbeit?
Ganz bestimmt. Zu einem grossen Teil geht es darum, unseren Klientinnen und Klienten zu vermitteln, was die Verwaltung von ihnen möchte, was in einem Schreiben oder einer Verfügung steht, die ihnen nicht verständlich ist. Und übergeordnet: Wie funktioniert die Verwaltung, und wie kommuniziert man entsprechend mit ihr?

Übersetzen Sie auch in die andere Richtung?
Ja, das Verhalten unserer Klientinnen und Klienten ist umgekehrt auch für die Verwaltung nicht immer nachvollziehbar. Viele Mitarbeitende haben heute immer weniger die Möglichkeit, Klientinnen und Klienten auch persönlich zu treffen. Auf der Ombudsstelle sind wir hier klar im Vorteil, da die Leute direkt an unsere Tür klopfen. Das erleichtert die Kommunikation ungemein, denn für viele Menschen ist der schriftliche Verkehr oder gar ein Telefongespräch bereits eine grosse Hürde.

Verwaltungssprache ist sehr technokratisch. Ist sie nicht auch Ausdruck des Machtvorsprungs des Staats seiner Bevölkerung gegenüber?
Sprache ist generell ein Machtinstrument – nicht nur in der Verwaltung. Die positive Kehrseite: Formulare, Weisungen et cetera stellen Informationen allen Interessierten zur Verfügung, mit demselben Inhalt und der gleichen Sorgfalt verfasst. Das gehört zum Gleichbehandlungsgebot. Von daher hat die Bürokratisierung in gewissem Sinn auch zur Demokratisierung der Verwaltung beigetragen.

Sie haben vor bald fünf Jahren viel Aufmerksamkeit erregt, als Sie als eine der Ersten in der Schweiz überhaupt auf das Problem des Racial Profiling aufmerksam machten – dass die Polizei also Personen allein aufgrund ihrer Hautfarbe verdächtigt und kontrolliert. Wie reagierte die Polizei auf diese Kritik?
Anfangs stiess ich auf heftige Abwehrreaktionen bei der Polizei. Die häufigste Reaktion war: «Wir sind doch keine Rassisten.» Manche Polizeivertreter warfen mir gar vor, ich hätte mir den Begriff des Racial und Ethnic Profiling selbst ausgedacht. Bis dahin hatte sich in der Zürcher Polizei noch nie jemand mit dem Thema befasst. Heute ist Racial Profiling klar ein Thema auch innerhalb der Polizei.

Tatsache bleibt allerdings, dass es das heftige, auch internationale mediale Echo auf die Festnahme des FCZ-Captains Yassine Chikhaoui an der Bahnhofstrasse unter den Augen von Touristen und die Reaktion des Klubpräsidenten brauchte, um endlich einen positiven Schub innerhalb der Polizei auszulösen. Und nicht die zahlreichen Fälle unserer Klienten, die von der Polizei mehrheitlich auf der Rückseite des Bahnhofs, im Langstrassenquartier, angehalten werden.

Für Opfer von Polizeiübergriffen gibt es kaum rechtliche Möglichkeiten. Wer die Polizei anzeigt, muss oft mit einer Gegenanzeige rechnen. Polizisten werden so gut wie nie verurteilt. Bräuchte es nicht eine unabhängige Untersuchungsinstanz?
Ich kann dem Anliegen viel abgewinnen, das sich ja an die Kantone richtet. Solche Instrumente wären besonders dort wichtig, wo es noch keine kantonalen parlamentarischen Ombudsstellen gibt. Unabhängige Untersuchungsinstanzen ergeben aber auch Sinn neben Ombudsstellen. Je vielfältiger und effektiver die Möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger sind, sich gegen Übergriffe und Unrechtmässigkeiten zu wehren, desto besser können sie ihre Rechte wahrnehmen.

Im Gegensatz zu ungerechtfertigten Sozialhilfekürzungen ist der Schaden eines Polizeiübergriffes nicht mit Geld wiedergutzumachen.
Das stimmt. Es geht für mich in der Regel auch nicht darum, dass eine Polizistin oder ein Polizist für das gezeigte Verhalten gebüsst wird. Viel wichtiger ist es, der kontrollierten Person aufzuzeigen, dass auch sie Rechte hat. Für manche Menschen ist es sehr schwierig, über solche Vorfälle zu sprechen, da Schamgefühle eine wichtige Rolle spielen – gerade bei einer Kontrolle in aller Öffentlichkeit, wenn womöglich Arbeitskollegen, Vorgesetzte oder aber die eigenen Kinder dabei waren. Wenn eine Person nur schon die Möglichkeit hat, ihre Wahrnehmung der Situation zu schildern und dem Gegenüber Fragen zu stellen, so kann sie das stärken.

Das Gespräch ist dann erfolgreich, wenn die Polizei bereit ist, sich in die Wahrnehmung der Betroffenen hineinzudenken, zu versuchen, diese nachzuvollziehen. Und, wenn gerechtfertigt, sich auch ernsthaft entschuldigen zu können. Diese Geste ist für viele Betroffene viel wichtiger, als dass die Polizistinnen und Polizisten allenfalls gebüsst werden.

Sie bleiben immer sehr diplomatisch. Auch in Ihren Berichten schreiben Sie immer wieder, dass Sie sich freuen, dass Racial Profiling als Problem erkannt werde. Gleichzeitig formulieren Sie Ihre Enttäuschung darüber, dass die Polizei Ihre Frage nicht beantwortet, warum genau jene Person kontrolliert wurde …
Es ist durchaus ein Zwiespalt. Es geht bei meiner Arbeit aber nicht nur um die Rückmeldung an Klientinnen und Klienten, sondern auch um jene an die Verwaltung. Man muss auch anerkennen, was die Verwaltung leistet und wie sie sich bemüht, in schwierigen Themen vorwärtszukommen. Zugleich habe ich auch genau darauf zu achten, wo die Verwaltung ausweicht oder wenig überzeugende Begründungen liefert. Es ist meine Aufgabe, sie zu erinnern, dass sie ihre Tätigkeit stets im Auftrag der Bevölkerung ausführt. Auch die Polizei.

Ist das nicht frustrierend, wenn man nur mahnen kann?
Nein. Bei unserer Vermittlungsarbeit und Beschwerdeprüfung handeln wir nicht mit der Autorität eines Amts, sondern mit Überzeugungskraft und Vertrauen, was manchmal viel nachhaltiger wirkt. Ich habe ein sehr offenes und positives Verhältnis zur Verwaltung. Auch weil ich weiss, wie anspruchsvoll gute Verwaltungsführung ist, und überzeugt bin, dass die einzelnen Mitarbeitenden mit Engagement und Fachwissen etwas bewirken können. Es ist entscheidend, wer an einer Stelle ist und wie er oder sie sich einsetzt. Das ist kein Widerspruch zum Gleichbehandlungsgebot, im Gegenteil.

Letztlich geht es darum, den Ermessensspielraum wahrzunehmen und die Verantwortung, die man trägt, zu übernehmen. Und dies macht die Arbeit ja auch so interessant. Dennoch hat Joschka Fischer wohl recht mit seiner Feststellung, die Veränderung des Amts durch den Menschen dauere etwas länger als die Verwandlung des Menschen durch das Amt.

Claudia Kaufmann

Die promovierte Juristin Claudia Kaufmann (60) war von 1985 bis 2003 in der Bundesverwaltung tätig, unter anderem als erste Leiterin des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau sowie zuletzt als Generalsekretärin des Eidgenössischen Departements des Inneren unter der damaligen Bundesrätin Ruth Dreifuss. Sie war massgeblich mitbeteiligt an der Ausarbeitung des Gleichstellungsgesetzes von 1995.

2004 wurde Kaufmann vom Zürcher Gemeinderat als Ombudsfrau der Stadt Zürich gewählt.