Polizeigewalt und Rassismus: Wann erfolgt die erste Verurteilung?

Nr. 8 –

Vergangene Woche hat das Berufungsgericht den angeklagten Polizisten im Fall Wilson A. freigesprochen. Die Geschichte veranschaulicht, welche strukturellen Probleme auch bei ähnlichen Fällen bestehen.

Wilson A. an einer Solidaritätskundgebung vor dem Prozess am Zürcher Obergericht
Am Ende der Polizeikontrolle im Oktober 2009 war er schwer verletzt: Wilson A. an einer Solidaritätskundgebung vor dem Prozess am Zürcher Obergericht. Foto: Michael Buholzer, Keystone

Der vorsitzende Richter ist offensichtlich nicht glücklich über das grosse öffentliche Interesse am Berufungsprozess im Fall Wilson A. Er dulde keine Zwischenrufe, keine Störung und keine politischen Manifestationen, stellt er gleich zu Beginn des Prozesses klar und lässt seinen Blick drohend über die Zuschauer:innen schweifen, die so zahlreich am Zürcher Obergericht erschienen sind, dass die fünfzig Plätze im Saal nicht ausreichen. Abgesehen von den vielen Medienvertreter:innen sind insbesondere Personen anwesend, die sich mit Wilson A. solidarisch zeigen wollen.

Mehr als vierzehn Jahre liegt der Vorfall zurück, um den es an diesem Tag geht. Am 19. Oktober 2009 war Wilson A. in Zürich spätabends mit einem Freund im Tram unterwegs, als an der Station Werd ein Polizist und eine Polizistin zustiegen und die beiden Schwarzen Männer aufforderten, sich auszuweisen. Weshalb man nur sie beide kontrolliere, fragten A. und sein Begleiter. Ob es an ihrer Hautfarbe liege? Es war die falsche Frage.

Was mit der Weigerung begann, sich kontrollieren zu lassen, endete für Wilson A. gemäss Spitalattest mit schweren Verletzungen: Quetschungen und Prellungen an Hals, Nacken, Kiefer sowie einem Bruch an der Wirbelsäule. Auch im Brustbereich, in der Nähe des kurz zuvor eingesetzten Herzschrittmachers, hatte A. Hämatome (siehe WOZ Nr. 15/18).

Wilson A. sagt, die Polizist:innen seien grundlos auf ihn losgegangen. Der Gruppenführer habe ihn gar brutal gewürgt. Dies alles, obwohl er immer wieder gesagt habe, er habe gerade eine Herzoperation hinter sich. Die Version der Polizei geht so: Wilson A. sei bei der Kontrolle extrem wütend gewesen, aggressiv geworden. Er sei auf die Polizist:innen losgegangen, man habe sich wehren müssen und Wilson A. nur mit vereinten Kräften auf den Boden gebracht. Den Vorwurf des Würgens bestreitet die Polizei. Sie behauptet zudem, man habe Wilson A. kontrolliert, weil er Ähnlichkeit mit einer zur Fahndung ausgeschriebenen Person gehabt habe.

Racial Profiling kein Anklagepunkt

Das grosse Interesse am Fall Wilson A. ist der Tatsache geschuldet, dass auch in der Schweiz vermehrt über strukturellen Rassismus, Polizeigewalt und Racial Profiling, also die Verdächtigung aufgrund äusserer Merkmale wie Hautfarbe, diskutiert wird. Mit dafür verantwortlich sind die Black-Lives-Matter-Bewegung sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen wie die Schweizer Allianz gegen Racial Profiling. Mitbegründer Tarek Naguib, der den Prozess beobachtet, sagt: «Wilson A. ist einer der Ersten, die sich mit einer eindrucksvollen Standhaftigkeit gegen Racial Profiling und Polizeigewalt vor Gericht gewehrt und damit anderen gezeigt haben, dass man dies nicht widerstandslos akzeptieren muss.»

Der Fall steht aber auch exemplarisch dafür, warum hierzulande bislang noch nie ein Beamter wegen rassistischer Handlungen verurteilt wurde.

Kurz nach 18 Uhr geht ein Raunen durch das Publikum am Zürcher Obergericht: Der Richter spricht den heute 48-jährigen Gruppenführer frei – vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs und der Gefährdung des Lebens. Zudem soll der Polizist 48 000 Franken Prozessentschädigung erhalten. Das Obergericht folgt damit dem Bezirksgericht Zürich, das den Polizeieinsatz im April 2018 ebenfalls als verhältnismässig beurteilt hat. Damals standen auch noch die zwei mitbeteiligten Polizist:innen vor Gericht, deren Freisprüche nicht weitergezogen wurden.

Racial Profiling ist im Einzelfall schwierig nachzuweisen, doch es war im gesamten Verfahren gar kein Anklagepunkt. Wilson A. und sein Anwalt hatten vor der ersten Verhandlung vergeblich gefordert, dass auch dieser Vorwurf untersucht würde. Auch im Berufungsverfahren erläuterte A.s Anwalt ohne Erfolg, warum die Kontrolle seiner Meinung nach unter die Praxis des Racial Profilings fiel – und dass man dies hätte beweisen können. Die Staatsanwaltschaft untersuchte nicht, zu welchem Zeitpunkt die Beamten vom Fahndungsbefehl wussten. Zudem zeigt die Person auf der Fahndungsmeldung laut der Allianz gegen Racial Profiling keine wirkliche Ähnlichkeit mit Wilson A.

Nach Schweizer Recht ist Racial Profiling kein spezifischer Tatbestand, könnte jedoch etwa im Sinne einer Persönlichkeitsverletzung oder als Verstoss gegen die Rassismusstrafnorm geahndet werden – wenn dies die Gerichte anstrengen würden.

Wilson A.s Fall zeigt auch beispielhaft auf, dass Polizeigewalt kaum je hartnäckig untersucht wird. Das verhindern sowohl der Korpsgeist innerhalb der Polizei als auch die grosse Nähe zu den Staatsanwaltschaften. In A.s Fall erhob die zuständige Staatsanwältin erst nach sechs Jahren Anklage – nach mehreren Versuchen, die Untersuchung einzustellen. Zahlreiche Beweisanträge von A.s Anwälten wurden im Verfahren abgelehnt. So gibt es etwa kein rechtsmedizinisches Gutachten, und das Obergericht verzichtete darauf, für die Berufungsverhandlung die beiden nicht mehr angeklagten Polizist:innen als Zeug:innen einzuvernehmen.

Die Waadtländer Fälle

Wilson A. kündigt nach dem Urteil an, dieses weiterzuziehen – wenn nötig bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). «Die Schweiz ist ein demokratischer Staat», sagt er in einer Pause am Gericht. Da dürfe so etwas, was ihm widerfahren sei, einfach nicht passieren. Und fügt hinzu: «Es sind schon Leute wegen Polizeigewalt gestorben – ich mache das auch für sie.»

Gestorben wie der nigerianische Staatsbürger Mike Ben Peter am 1. März 2018 in Lausanne. Kein anderer Schweizer Fall von mutmasslicher rassistischer Polizeigewalt erinnert derart frappant an den Fall von George Floyd, dessen Tod 2020 in den USA und weltweit Millionen Menschen auf die Strasse brachte. Wie Floyd starb Peter, nachdem Polizisten minutenlang auf seinem Rücken gekniet hatten. Letzten Juni wurden die sechs an der tödlichen Kontrolle beteiligten Polizisten vom Lausanner Bezirksgericht freigesprochen, obwohl ihnen eindeutig Fehlverhalten nachgewiesen wurde: Sie beliessen Peter, nachdem er mit Tritten in die Genitalien und Pfefferspray zu Boden gebracht worden war, viel zu lange in der gefährlichen Bauchlage.

Die Staatsanwaltschaft hinderte die Polizisten nach ihrer Tat nicht daran, sich abzusprechen. Während des Prozesses machte der zuständige Staatsanwalt Laurent Maye eine Kehrtwende und liess seine Anklage wegen fahrlässiger Tötung plötzlich fallen. Der Richter begründete seinen Freispruch mit einem Gutachten, das die Kausalität zwischen der Polizeigewalt und dem Herzstillstand von Peter infrage stellt.

Im Kanton Waadt sind in den letzten Jahren weitere Schwarze Männer in den Händen der Polizei gestorben. Am 24. Oktober 2017 starb der damals 23-jährige gambische Asylsuchende Lamine Fatty in einer Zelle an einem epileptischen Anfall. Zuvor war er aufgrund einer Verwechslung festgenommen worden. 2016 erschoss ein Polizist den in der Schweiz aufgewachsenen Kongolesen Hervé Mandundu im Treppenhaus seiner Wohnung.

Schlamperei im Fall Nzoy

Die jüngste Tötung eines Schwarzen in der Waadt – der Fall Nzoy – hat auch in der Deutschschweiz grosse Proteste ausgelöst. Roger Wilson, genannt «Nzoy», starb am 30. August 2021 am Bahnhof von Morges, niedergestreckt von drei Schüssen eines Polizisten. Nzoy war in schlechter psychischer Verfassung auf den Gleisen herumgeirrt, bevor er mit einem Messer auf die Polizisten zurannte, von denen einer sofort abdrückte. Auf Handyaufnahmen ist zu sehen, dass die involvierten Beamt:innen nach Nzoys Zusammenbrechen minutenlang keine erste Hilfe leisten, erst ein zufällig vorbeikommender Krankenpfleger beginnt mit der Herzmassage.

Nzoys Familie hat deshalb beantragt, die Anklage um den Punkt der unterlassenen Hilfeleistung zu erweitern. Doch ob es überhaupt zu einem Prozess kommt, ist fraglich: Staatsanwalt Laurent Maye, derselbe Strafverfolger wie im Fall Mike Ben Peter, hat im November angekündigt, die Untersuchung einstellen zu wollen. Ludovic Tirelli, der Anwalt der Familie, wartet derzeit noch immer auf Mayes definitiven Entscheid. Um den Druck auf Maye zu erhöhen, haben Unterstützer:innen die Organisation Border Forensics mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragt. Tirelli sagt: «Es wäre absolut krass, wenn es in diesem Fall nicht einmal zu einem Verfahren käme. Es geht schliesslich um den Vorwurf der vorsätzlichen Tötung. Der Polizist hat bewusst auf den Oberkörper von Nzoy gezielt.»

Wie Wilson A.s Anwalt hat auch Ludovic Tirelli zahlreiche Anträge gestellt, die der Staatsanwalt bei seiner Untersuchung alle abgelehnt hat. «Wir verlangten etwa ein unabhängiges Gutachten zur Frage, ob der Polizist andere Möglichkeiten gehabt hätte, sich zu verteidigen. Auskunft darüber, ob seine Schutzweste vor Messern schützte.»

Machtdemonstration

Haben sich die Dinge seit Wilson A.s Polizeikontrolle vor über vierzehn Jahren geändert? Im Gerichtssaal hat man nicht den Eindruck: Die Machtverhältnisse werden an diesem Tag besonders deutlich demonstriert. Etwa indem die Staatsanwältin gar nicht erst zur Verhandlung erscheint. Durch das beachtliche Polizeiaufgebot im und vor dem Gericht. Oder als der Richter zu Beginn der Verhandlung betont, man komme Wilson A. entgegen, indem man sich dazu entschlossen habe, Hochdeutsch zu sprechen.

Tarek Naguib von der Allianz sagt, in einem Punkt seien die Verhältnisse heute durchaus anders: in der Wahrnehmung der Fälle. So sei das Interesse heute grösser als noch vor sechs Jahren.

EGMR-Urteil : Rüge für die Schweiz

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Dienstag ein deutliches und womöglich wegweisendes Urteil gefällt: Der EGMR rügt die Schweiz, die Gerichte hätten nicht genügend geprüft, ob der Zürcher Mohamed Wa Baile bei einer Polizeikontrolle am Zürcher Hauptbahnhof im Jahr 2015 diskriminiert worden sei. Wa Baile hat sich durch alle Instanzen gegen einen Strafbefehl gewehrt. Diesen hatte er aufgrund seiner Weigerung erhalten, sich auszuweisen.

Er kämpfte mit seiner Klage um gerichtliche Anerkennung von rassistischer Diskriminierung und Racial Profiling in der Schweiz. Die Schweizer Gerichte stuften die anlasslose Kontrolle am Zürcher Bahnhof dagegen als rechtmässig ein und folgten der Argumentation der Polizei, Wa Baile habe sich durch Wegschauen verdächtig gemacht. Das Zürcher Verwaltungsgericht entschied zwar in einem weiteren Verfahren, dass für die Personenkontrolle nicht genügend objektive Anhaltspunkte vorgelegen hätten und sie damit rechtswidrig gewesen sei – wollte aber die Frage der Diskriminierung nicht beurteilen.

Das EGMR stufte den Fall Wa Baile als «Impact Case» ein, das sind Fälle, denen der Gerichtshof eine besondere Bedeutung für die Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes beimisst. In seinem Urteil hält er fest, die Schweiz habe mit der ungenügenden Prüfung von Wa Bailes Vorwurf unter anderem das Diskriminierungsverbot verletzt. Das Urteil stellt die bisher äusserst polizeifreundliche Praxis der Schweizer Gerichte bei Rassismusvorwürfen infrage – und dürfte den Druck auf die Behörden erhöhen, solche Fälle gründlicher zu untersuchen. Für Wa Baile bedeutet der EGMR-Entscheid: Die Gerichte müssen seinen Fall neu beurteilen, wenn er das verlangt.