Colin Crouch: «Die Stärke des Kapitalismus ist seine Flexibilität»

Nr. 49 –

Benützt der Neoliberalismus den neuen Nationalismus? Was kann eine erneuerte Sozialdemokratie dagegen tun? Der britische Soziologe Colin Crouch spricht über den aktuellen Zustand der europäischen Demokratien.

WOZ: Herr Crouch, im Jahr 2003 beschworen Sie in Ihrem Buch «Postdemokratie» die Gefahr einer zusehends ausgehöhlten Demokratie. In Ihren jüngsten Publikationen setzen Sie ziemlich hoffnungsfroh auf eine neue «durchsetzungsfähige Sozialdemokratie». Woher kommt dieser Optimismus?
Colin Crouch: Also, ich wollte uns etwas Hoffnung machen, weil man mir gesagt hat, meine früheren Bücher seien zu pessimistisch. Und tatsächlich, eine modernisierte Sozialdemokratie, wie ich sie verstehe, hat die Chance, die wichtigsten aktuellen Probleme anzupacken.

Die da wären?
Erstens die Umweltgefährdung. Neokonservative leugnen den Klimawandel, Neoliberale setzen ganz auf Marktlösungen. Also bleibt nur eine begrünte Sozialdemokratie. Zur Lösung des Klimawandels hat sie zusammen mit den Grünen und der Umweltschutzbewegung taugliche Modelle entwickelt. Zweitens entstehen durch die Globalisierung neue Marktbedingungen oder ganz neue Märkte. Dadurch gibt es zwangsläufig auch soziale Verwerfungen und Probleme. Die Globalisierung kann nicht rückgängig gemacht werden, auch nicht die Orientierung auf den Markt. Allerdings braucht es dadurch nicht weniger Sozialpolitik, wie die Neoliberalen behaupten, sondern mehr. Und eine gute Sozialpolitik ist die Kernkompetenz der Sozialdemokratie.

Wie soll sie zum Beispiel gegen die wachsende Ungleichheit angehen?
Da geht es um eine supranationale Sozialpolitik, wie sie national in nordeuropäischen Sozialdemokratien unter dem Stichwort «Flexicurity» entwickelt worden ist. Das bedeutet eine Arbeitsmarktpolitik, die die Flexibilität der Arbeitnehmenden fördert und zugleich Sicherheit bei grösseren Problemen garantiert. Jeder Einzelne muss sich dabei Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt erarbeiten, muss fähig sein, gute Jobs auszufüllen. Zugleich muss der Staat anständige Rahmenbedingungen garantieren.

Was heisst das auf supranationaler Ebene?
Nun, es gibt durchaus ermutigende Beispiele, etwa der Einsatz der OECD gegen die Korruption. Selbst für die Welthandelsorganisation liessen sich Sozialklauseln aushandeln, ein Verbot von Kinderarbeit oder anderes. Und dann sind da die Bemühungen um ein gerechteres Steuerregime.

Ideen wie eine Finanztransaktionssteuer sind in den letzten Jahren eher von Bewegungen jenseits der Parteien gestartet worden, etwa von Attac.
Das stimmt. Wobei die Beziehung zwischen NGOs oder Bürgerinitiativen und Parteien notwendigerweise eine schwierige ist. Parteien tendieren dazu, andere Bewegungen absorbieren zu wollen. Das ist ein Fehler. Es braucht gelegentlich Gruppen, die Initiativen lancieren können, für die Parteien keine Verantwortung übernehmen müssen. Die Gruppen sind wie Unternehmer, die neue Ideen ausprobieren. Manche neuen Ideen scheitern. Parteien können sich längerfristig ein Scheitern nicht leisten.

Auf der andern Seite pflegen NGOs zumeist ein wenig Verachtung gegenüber Politiker, und nicht immer zu Unrecht, oder sie halten sie für bürokratisch, unfähig, sich zu erneuern. Aber sie müssen erkennen, dass viele Fragen letztlich auf staatliches Terrain getragen, ins politische System eingespeist werden müssen. Bürgerinitiativen und Parteien ergänzen sich und müssen sich gegenseitig respektieren, müssen lernen, ihren jeweiligen Raum zu akzeptieren.

In diesem Feld wirken etwa auch US-Gerichte mit, die gegen europäische Banken exorbitante Bussen verhängen. Einerseits werden da krude US-amerikanische Nationalinteressen vertreten, andererseits versuchen sie auch eine Selbstreinigung des Finanzsystems.
Die US-Gerichte handeln aus der Erkenntnis heraus, dass die Märkte eigentlich ein solches Verhalten nicht tolerieren können, weil sie sich selbst betrügen. Das Paradox besteht darin, dass der Markt Anreize zu marktfeindlichem Verhalten bietet. Die Theorie des unregulierten Markts gerät da in eine Falle. In der Realität reagieren Institutionen mit Bestrafungen darauf und verändern so das Anreizsystem.

Führt nicht jede kapitalistische Marktwirtschaft unweigerlich zu periodischen Krisen?
Womöglich. Aber ihre grosse Stärke ist ihre inhärente Flexibilität. Die Marktwirtschaft kann auf Krisen und Schwächen reagieren, wie es keiner zentralisierten Planwirtschaft möglich ist. Allerdings hat der dogmatische Neoliberalismus versucht, jegliche andere Form des Kapitalismus zugunsten des Shareholder Value zu zerstören. In England sind beispielsweise die meisten Bausparkassen, die auf dem Prinzip der Gemeinnützigkeit basierten, in Banken umgewandelt worden, von denen manche in der Finanzmarktkrise untergegangen sind.

Ein strikter und kruder Neoliberalismus zerstört also gerade die eigentliche Stärke des Kapitalismus, dessen innere Diversität. Denn falls eine bestimmte Form kapitalistischer Produktion in Schwierigkeiten gerät, mag eine andere resistenter sein.

Sie haben in Zürich über die Beziehung von Neoliberalismus und neuem Nationalismus in Europa gesprochen.
Das ist ein durchaus komplexes Verhältnis. Grundsätzlich wäre ein schrankenloser Neoliberalismus ja mit allen protektionistischen, damit auch fremdenfeindlichen Ideen unvereinbar. Das Kapital will schrankenlosen Verkehr von Arbeitskräften. Aber in bestimmten Situationen konvergieren die beiden Strömungen. Sofern die fremdenfeindliche Kritik von den Verheerungen des Neoliberalismus ablenkt, wird sie dankbar aufgegriffen.

Werden chauvinistische Strömungen nicht durch Medien und neoliberale Politikerinnen und Politiker gezielt gefördert?
Meines Erachtens gibt es in der Politik weniger bewusste Strategien, als man glaubt. Ich würde das Verhältnis eher als opportunistisch bezeichnen. Auch ist es je nach Land verschieden. In Frankreich und Ungarn marschieren Neoliberale und Rechtsextreme getrennt; in England, in der Schweiz, in Norwegen und auch in den USA gibt es taktische Verbindungen. Das nenne ich, wie gesagt, opportunistisch.

Wie kann die Anziehungskraft solcher Bewegungen vermindert werden?
Zuerst einmal muss man anerkennen, dass Migration zu sozialen Problemen führen kann. So entstehen zuweilen wirtschaftliche Subsektoren mit tiefen Löhnen.

Nehmen wir das Beispiel England. Wir hatten in den letzten Jahren ein beträchtliches Wirtschaftswachstum bei fallender Produktivität. Entstanden ist ein Subsektor der Wirtschaft mit tiefer Produktivität und tiefen Löhnen, etwa die Landwirtschaft in Ostengland.

… die berühmten Erdbeeren für das Tennisturnier in Wimbledon …
Erdbeeren, Spargel und viele andere Gemüse. Da werden dann polnische Landarbeiter angestellt. Nun ist es natürlich unzulässig, ihnen die Schuld am entstehenden Lohndruck anzuhängen. Dagegen braucht es eine entschiedene Sozialpolitik: Minimallöhne, genügend Inspektoren, um die Arbeitsbedingungen zu kontrollieren, starke Gewerkschaften. Das steigert mittelfristig die Produktivität, aber kurzfristig mögen solche Wirtschaftssektoren eingehen, werden Mindestlohnjobs verloren gehen. Tja, dann gibt es halt keine einheimischen Erdbeeren mehr, oder sie werden teurer. Das ist ja nicht so schlimm, wenn dafür besser bezahlte Arbeitsplätze entstehen.

Aber zuerst sind es die Polen, die ihre Jobs verlieren.
Ja, deshalb braucht es eine Sozialpolitik für die ganze EU.

Sehen Sie dafür Chancen?
Sagen wir mal, ich bin nicht ganz pessimistisch. Gegenwärtig forciert und reguliert die EU den Markt, und die Nationalstaaten sind für die Sozialpolitik zuständig. Das war auch schon anders. In den achtziger Jahren versuchte die EU eine fortschrittliche europäische Sozialpolitik. Die wurde dann von der neoliberalen Agenda verdrängt. Heute geht die Orientierung auf die Märkte ohne Berücksichtigung der Sozialpolitik vonstatten, und Ökonomen und Technokraten werden mit ihrer Durchführung betraut. Aber selbstverständlich führt die Personenfreizügigkeit zu sozialen Problemen. Deshalb braucht es eine Sozialpolitik. Die ist bis jetzt nicht gemacht worden. Deshalb stecken wir im gegenwärtigen Schlamassel.

Was den Rechtsradikalismus betrifft, so gilt es schlicht und einfach, ihn zu bekämpfen. Auch da bin ich nicht ganz pessimistisch. Es gibt Fremdenfeindlichkeit, zweifellos. Aber ich glaube nicht, dass sie eine Mehrheit in unseren Gesellschaften findet. Der Multikulturalismus ist akzeptiert, auch als innovative Ressource. Viele Leute, insbesondere Junge, geniessen die multikulturelle Kultur, die Vielfalt, die sie mit sich bringt.

Kürzlich hat mir ein Lehrer gesagt, es sei schrecklich in seiner Schule, keines der Kinder spreche mehr Englisch als erste Sprache. Tja, da muss man halt sagen: «So ist es, und ohne diese Kinder gäbe es gar keine Schule mehr, und du hättest keinen Job mehr.» Da braucht es halt spezielle Unterstützungs- und Fördermittel. Wo es eine sozialstaatliche Reaktion auf die Migration gibt, da kann sie funktionieren.

In Ihrem Vortrag in Zürich haben Sie von einer Feminisierung der Sozialdemokratie gesprochen. Was meinen Sie damit?
Mit der Auflösung der Industriegesellschaft sind auch die bisherigen politischen Identitäten verloren gegangen. Die Anhänger fremdenfeindlicher Bewegungen haben Angst vor Veränderungen, vor dem sozialen Abstieg. Es sind mehrheitlich weisse ältere Männer.

In den neuen Dienstleistungsbereichen dominieren Frauen. Sie haben lange Jahre der sozialen und politischen Ausschliessung erfahren. Dadurch begreifen sie die Notwendigkeit einer Sozialpolitik unmittelbarer. Sie sind stärker, direkter mit dem Problem der Work-Life-Balance konfrontiert – Arbeit und Alltag auszubalancieren. Man könnte also sagen, gegenwärtig stehen sich Rechtsparteien älterer Männer und eine feminisierte Sozialdemokratie gegenüber.

Postdemokratie

Der englische Soziologe Colin Crouch (70) hat an den Universitäten Oxford, Florenz und Warwick gelehrt. Sein 2003 auf Englisch und 2008 auf Deutsch erschienenes Buch «Postdemokratie» lancierte die Debatte um die Krise der Demokratie, die er in «Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus» (2011) weiterführte. Sein jüngstes Buch ist «Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit» (2013).

Crouch trat am vergangenen Samstag zum zehnjährigen Jubiläum des linken Thinktanks Denknetz in Zürich auf. Das Denknetz zählt mittlerweile über tausend Mitglieder; rund fünfzig Personen aus den verschiedensten Bereichen arbeiten in mehreren Arbeitsgruppen. Neben zehn Ausgaben des «Jahrbuchs» sind weitere Publikationen, etwa zur Sozial-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik, erschienen, zuletzt das Buch «Die überflüssige Schweiz» (2014).

Demokratie

«Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen»: Unter diesem Titel beschäftigt sich WOZ-Redaktor Stefan Howald mit grundsätzlichen Fragen demokratischer Teilhabe: Wer darf am demokratischen Prozess teilnehmen? Wo findet dieser statt? Worüber wird verhandelt? In welchen Formen? In dem soeben im Rotpunktverlag erschienenen Buch propagiert Howald angesichts von Krise und Gefährdung der Demokratie eine Demokratisierung der Wirtschaft, transnationale Bürgerrechte und neue direktdemokratische Formen.

Stefan Howald: «Volkes Wille? Warum wir 
mehr Demokratie brauchen». Rotpunktverlag. Zürich 2014. 290 Seiten. 34 Franken. Das Buch ist auch im WOZ-Shop erhältlich.