Durch den Monat mit Michel Seiler (Teil 2): Sind es andere Kinder?

Nr. 37 –

Michel Seiler: «Jeder Erzieher sollte zuerst ein Handwerk lernen.»

WOZ: Hat die Jugendgewalt in den letzten zehn Jahren tatsächlich zugenommen?
Michel Seiler: Auf eine bestimmte Weise hat sie wohl schon zugenommen. Die Anfragen nach Heimplätzen sind zwar bei uns immer etwa gleich geblieben, aber es gibt ja auch mehr Institutionen, die etwas anbieten.

Sind es andere Kinder als früher?
Wir leben heute in einem grösseren Konsumsog, der erlebnissüchtig macht. Man ist gesättigt, nervös, hat einen wahnsinnigen Bewegungsdrang. Die Jugendlichen kommen kaum mehr her-unter, es muss immer verrückter werden. Dann sagen sie sich: «Heute muss noch was gehen, jetzt machen wir noch einen fertig!»

Die Jugendlichen wollen sich also mehr bewegen?
Mit den Händen und Füssen wird zu wenig gemacht, das ist das Problem. Bei dieser Kopflastigkeit entsteht ein wahnsinniger Druck im Kopf, im ganzen Körper. Der muss dann explosionsartig entladen werden. Früher, als man noch mehr mit den Händen arbeitete, man noch zu Fuss und mit dem Velo irgendwohin ging, konnte man diese Kraft, die man als Jugendlicher hat, auch besser entladen.

Wohin hat sich der Lösungsansatz entwickelt in diesen Jahren?
Dass wir mehr Medikamente brauchen. Kreativarm – pharmaziereich.

Geben Sie in der Stärenegg denn Ritalin aus?
Nein, wir haben die Medikamente bei den meisten Kindern streichen können.

Sie haben sich vor Jahren ziemlich dagegen gewehrt, dass die IV Ihnen kein Geld auszahlt.
Ich fand es nicht in Ordnung, dass wir lauter Kinder haben, die IV-berechtigt sind, aber nichts bekommen. Nur weil wir nicht die sogenannt «richtigen» Mitarbeiter haben. Es wird schwierig, Kinder bei uns zu platzieren, wenn der Kanton alles selbst übernehmen muss. Es sind nur noch die Kinder, die sonst einfach nirgends mehr tragbar sind. 
Sie wurden von Spezialisten betreut, und wir haben gemerkt, dass wir Allrounder brauchen.

Was meinen Sie mit Allrounder?
Die Jugendlichen brauchen vor allem Handwerker, gute Köchinnen, Gärtnerinnen und Bauern. Solche Leute sind tragfähiger. Nicht die Kinder sind unbedingt schwieriger geworden heute, aber wir haben weniger tragfähige Erwachsene.

Sind die Pädagogen zugrunde gebildet worden – indem beispielsweise auch KindergärtnerInnen an eine Hochschule müssen?
Das ist eine Katastrophe! Ich bin überzeugt, dass jeder Erzieher zuerst ein Handwerk lernen sollte und sich erst dann zum Pädagogen ausbilden soll. Wir hätten eine ganz andere Pädagogik.

Sie haben auch keine pädagogische Ausbildung.Nein, ich habe Bauschreiner gelernt.

Wie kamen Sie denn zu den Kindern?
Wie der Indianer zum Jagen – durch die Familientradition. Meine Grossmutter nahm schon Kinder auf. Sie war Hebamme, und man legte ihr auch Neugeborene vor die Türe. Meine Eltern haben das Schlössli in Ins gegründet, eine Heimschule.

Die Lehre als Bauschreiner war also eine bewusste Entscheidung?
Ja, ich wusste, mit dem Handwerk kann man etwas verändern auf der Welt.

Handwerker wird es immer weniger geben.
Deshalb ist es auch eine grosse Katastrophe, dass man die Landwirtschaft so «gesundschrumpft». Vor dreissig Jahren half ja noch jeder beim Heuen und bei der Kartoffelernte. Das ist ein Ausbildungspotenzial, das ersatzlos gestrichen worden ist, und die pädagogischen Fachleute, die haben das nicht einmal gemerkt.

Aber alle Jungen wollen ins KV.
Wenn heute jemand Handwerker lernt, ein guter Zimmermann, Maurer oder Mechaniker wird – dann wird er nicht arbeitslos.

Wenn er eine Lehrstelle findet.
Das ist ein Problem. Von mir aus dürfte jede Lehre wieder etwas kosten. Der Bund könnte das finanzieren. Ein 
Gymischüler kostet vielleicht 30 000 Franken pro Jahr, und auch eine Lehre dürfte wieder etwas kosten. Heute ist es gar nicht mehr interessant, Lehrlinge zu haben – es müsste auch Anreize geben.

Statt Zwänge, wie sie der Kanton Zürich vorschlagen will.
Ich finde es falsch, dass Linke die Betriebe zu Lehrlingen zwingen wollen. Nein, man muss die Lehre dem Gymnasium gleichsetzen, der Staat soll bezahlen. Und die Arbeitslosen sind heute genauso das Problem: Viele Jugendliche erleben Eltern, die keine Arbeit haben, die auch für nichts da sind, ohne Aufgabe. Wenn ich befehlen könnte, gäbe es keine Arbeitslosen mehr.

Und wie kämen wir dazu?
Ich würde die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfegelder streichen. Ich würde einen Grundlohn verknüpft mit einem Zivildienst einführen, für diejenigen, die erwerbslos sind. Die ganzen Strassen zum Beispiel könnte man wieder von Hand wischen, das ist eine schöne Aufgabe. Und dann kann man auch mit den Leuten reden, den alten Leuten beim Einsteigen helfen, beim Billettlösen.

Wie wäre das zu finanzieren?
Über die Mehrwertsteuer, indem der Konsum statt die Arbeit besteuert wird. Gesamthaft wird das nicht mehr Geld brauchen, eher sogar weniger, weil diese Leute alle beschäftigt sind. Und diese Jugendlichen haben dann Eltern als Vorbild, die etwas zu tun haben auf dieser Welt. Interview: Sina Bühler

Michel Seiler (58) leitet im Emmental 
den Berghof Stärenegg, ein Heim für Kinder aus schwierigen Verhältnissen. 
Er ist Gemeindepräsident von Trubschachen und kandidiert als Grüner für den Nationalrat.

Siehe auch die Reportage vom Berghof Stärenegg aus WOZ Nr. 15/14