Wissenschaftsstandorte (6): Stadtquartier Denkfabrik

Die ETH will in Zürich den Universitätscampus neu erfinden und wagt eine Quadratur des Kreises.

Wenn es den Universitäten zu eng wird in der Stadt, suchen sie sich einen Platz auf dem Land. Unversehens bringen sie urbane Strukturen hinaus ins Grüne und stampfen mitunter innert kurzer Zeit ­Retortenstädte aus dem Boden. Die Amerikaner haben es gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorgemacht, als ein Universitätscampus nach dem anderen gegründet wurde, oft fernab der Stadtzentren, wo ein reicher Landbesitzer ein (buchstäblich) weites Feld stiftete. Mancherorts erlebten die Städte in den folgenden Jahrzehnten einen ebenso rasanten wie planlosen Wachstumsschub, sodass sich die Universitäten schon bald als «Stadt in der Stadt» zu behaupten hatten. Die University of Chicago etwa, 1880 an idyllischer Lage erbaut, fand sich ein halbes Jahrhundert später inmitten eines «bad neighbourhood» wieder. Die Gegend um die Universität verslumte nach dem Ersten Weltkrieg zusehends. Die Universität versucht seither, ihr Stammland zu sichern, indem sie eine aggressive Immobilienpolitik betreibt und in die schwarzen Viertel hineinexpandiert. Die Gegensätze zwischen Universität und restlicher Bevölkerung manifestieren sich so zusätzlich in einem scharfen Wohlstandsgefälle rund um das Campusgelände.

Zürichs Universitätsstädtchen im Grünen mit eigener Post und einer Einkaufsstrasse mit drei Läden und ein paar Restaurants liegt auf dem Hönggerberg, hat derzeit etwa 7000 «EinwohnerInnen» und soll nach dem Willen der ETH-Leitung bis 2010 zur ausgewachsenen «Science City» werden. 400 Millionen Franken sollen in den nächsten fünf ­Jahren investiert werden, 150 Millionen in die wissenschaftliche und 250 Millionen, die sich die ETH mehrheitlich von privaten Sponsoren schenken lassen will, in «städtische» Infrastruktur. Diese beinhaltet Wohngelegenheiten für tausend Studierende, einen Flanierboulevard, wo derzeit nur eine Busschlaufe ist, und Räume für Sport und Kultur. Innert gut fünf Jahren will man einen lebendigen Campus auf dem Hönggerberg einrichten.
In erster Linie geht es der ETH dabei um die Sicherung ihres wissenschaftlichen Rangs. Sie will sich unter den zehn besten Hochschulen weltweit positionieren, und dies gelingt nur, wenn sie die besten Leute in die Labors holen kann. Von entscheidender Bedeutung ist es dabei, schon die DoktorandInnen zu ködern, denn die ETH ist wie jede andere Universität in Forschung wie Lehre auf guten Nachwuchs angewiesen. Gerade der in den Labors beschäftigte Mittelbau empfindet die bestehende Anlage auf dem Hönggerberg als wenig attraktiv. Angesichts der Zeit, die die DoktorandInnen auf dem Hönggerberg verbringen (fünfzig bis sechzig Stunden pro Woche sind die Regel), ist die vorhandene Infrastruktur äusserst bescheiden. Einkaufsmöglichkeiten fürs Nötigste sowie eine Bar gibt es erst seit ein paar Jahren, und wer in den Semes­terferien am Abend noch etwas essen will, muss bis heute sein Sandwich selbst mitnehmen.

Anders als zum Beispiel in Chicago will die ETH aber keine gegen aussen hin abgeschlossene Universitätsstadt. Der Ort soll auch für weite Teile der Zürcher Bevölkerung attraktiv sein – die Projektverantwortlichen sprechen gern von einem neuen «Stadtquartier für Denkkultur», die Quartiervereine wurden in der Projektphase mit einbezogen. In diesem Sinne ist der Begriff «City» eigentlich falsch: Der Campus soll vielmehr «weit geöffnete Türen haben und Begegnungsräume anbieten für die wechselseitige Inspiration von wissenschaftlichem und Erfahrungswissen».

Tatsächlich bietet die ETH Hönggerberg heute den BesucherInnen noch ein ganz anderes Bild. Gerade der eben fertig gestellte Life-Science-Neubau, der laut ETH «die Tür zu diesem Prozess [der Öffnung] aufgestossen hat», zementiert das Bild der hermetischen Wissenschaft, indem er zwar mit einer glasdurchsetzten Fassade Transparenz vorgibt, tatsächlich aber gegen aussen vollkommen abgeriegelt ist. Die bestehenden parkähnlichen Anlagen haben damit zwar unvermittelt ein ausdrücklich urbanes Element zur Seite gestellt bekommen, doch das Gelände wurde deswegen für «Wissenstouristen» (ETH-Zitat) keineswegs einladender. Anziehungspunkt ist im Moment am ehesten der günstige Kaffee in der Physikmensa, wo am Nachmittag mitunter mehr RentnerInnen als Studierende verkehren. Die «besondere Atmosphäre» des Forschungsplatzes jedenfalls, die einige der ETH-Verantwortlichen beschwören, wenn es um die Frage geht, weshalb in Zukunft AusflüglerInnen auf den Hönggerberg pilgern sollen, bleibt derzeit noch fein säuberlich hinter die Labortüren gesperrt.

Eines scheint man in Zürich immerhin erkannt zu haben: dass sich die Hochschule der Zukunft nicht weiter isolieren kann. So gibt es für Gerhard Schmitt, den Vizepräsidenten Planung und Logistik der ETH Zürich und Hauptverantwortlichen für Science City, keinen Zweifel, dass «sich die Hochschulen radikal werden ändern müssen, um in Zukunft das gesellschaftliche Fundament nicht zu verlieren». Für ihn stehen die beiden Aspekte von Science City, der Campus für die Studierenden und das Denkquartier für die Stadt, «absolut gleichberechtigt» nebeneinander.

Momentan sind vier Architekturteams aus der Schweiz und den Niederlanden im Rahmen eines Wettbewerbs mit der Erarbeitung eines Masterplans für das Gelände beschäftigt, der im September vorgestellt werden soll. Nach den Vorgaben der ETH ist bei der Planung das Denkquartier ebenso zu berücksichtigen wie die Infrastruktur für die ETH-Angehörigen.

Hypothek für eine weiträumige Ausstrahlung von Science City über die anliegenden Quartiere hinaus ist und bleibt aber die Lage. Über eine halbe Stunde dauert momentan die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Stadtzentrum zum Hönggerberg. Als 1961 die weitläufige Anlage der Physikbauten die damals so genannte «Aussenstation der ETH» auf dem Hönggerberg begründete, war die Öffnung der Hochschulen zur Gesellschaft hin noch kaum ein Thema. Heute dagegen wird allenthalben versucht, den immer tiefer werdenden Graben zu überbrücken. Derzeit zeigt das Landesmuseum, in enger Zusammenarbeit mit Uni und ETH Zürich, eine Ausstellung zum Thema Gentechnik, weitere naturwissenschaftliche Ausstellungen sollen folgen. Die Uni Basel plant ein Haus der Wissenschaften im Herzen der Stadt (das Projekt ist allerdings fürs Erste wegen Finanzknappheit auf Eis gelegt). Die Hochschulen bemühen sich, ihr Territorium zu verlassen und auf die Öffentlichkeit zuzugehen. Die Vision Science City hingegen vertraut umgekehrt darauf, dass die Bevölkerung den Schritt hin zur Hochschule machen wird. Einzig Novartis in Basel plant etwas Vergleichbares, indem der Konzern sein weites Chemieareal für die Bevölkerung öffnen will.

Andrea Deplazes, Architekturpro­fes­sor an der ETH Zürich und Autor einer Entwicklungsstudie zu Science City, träumt manchmal davon, dass der Künstler Roman Signer eine Perfor­mance auf dem Hauptplatz veranstaltet (wie er das schon zur Einweihung des Collegium Helveticum der ETH vor wenigen Jahren getan hat) und damit Aussenstehende auf das ETH-Gelände lockt. Grundsätzlich hat er aber eine durchaus pragmatische Meinung da­rüber, wie der Wissenschaftskomplex zu einem Stadtquartier werden könnte: Das Gebiet müsse schlicht dieselben Qualitäten bieten wie jedes andere neue Wohnviertel, um für MieterInnen attraktiv zu sein. Eine Durchmischung wäre für ihn dann gelungen, wenn der Campus sich in die umgebenden Quartiere eingliederte und mit seiner Infrastruktur (Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants) deren BewohnerInnen aufs Gelände lockte. Ein Landschaftspark vom Hönggerberg bis hin­über zur Waid könnte zudem einen Brückenschlag zur Stadt hin schaffen und SpaziergängerInnen zur Science ­City führen.

Konzeptionell also will Science City in mancherlei Hinsicht die Quadratur des Kreises: Den Forschenden und Studierenden will man eine in sich geschlossene Stadt mit unabhängiger Struktur bieten (den Campus), der Öffentlichkeit ein offenes und einladendes Quartier. Kees Christiaanse, Professor für Städtebau an der ETH und Leiter eines der Teams im Masterplan-Wettbewerb, sieht einen ähnlich gelagerten Widerspruch, den die PlanerInnen lösen müssen: «Eine Universität ist im Allgemeinen ein spezialisierter Komplex, während ein urbanes Viertel viele Nutzungsarten zulässt.»
Gerhard Schmitt erkennt hierin keine Widersprüche, sondern eben die Fixpunkte, nach denen sich eine Hochschule der Zukunft ausrichten muss. Eine Anlage, wie sie mit Science City verwirklicht werden soll, sei «lebensnotwendig» für die Studierenden ebenso wie für die Stadt der Zukunft. Wer von den investierten Millionen kurzfristig stärker profitiert, liegt auf der Hand. Es wird sich weisen, ob das «Experiment» (wie Gerhard Schmitt selbst es nennt) Science City langfristig auch Resultate zeitigt, von denen nicht nur die Forschung profitiert.

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