Proteste in Israel: In Wut, Schmerz und Ratlosigkeit vereint

Nr. 14 –

Zehntausende gehen wieder auf die Strasse, um das Ende der Regierung zu fordern. Tatsächlich könnte der Sturz Benjamin Netanjahus bevorstehen – aber aus anderen Gründen. Und noch immer fehlt eine tragfähige Vision für die Zeit nach ihm.

Demonstration in Jerusalem am vergangenem Sonntag
«Geiseln, Binnenflüchtlinge und Regierung – nach Hause.» Zehntausende forderten am Sonntag in Jerusalem die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Foto: Debbie Hill, Imago

Vergleicht man Luftaufnahmen der Demonstrationen der letzten Tage mit jenen, die vor einem halben Jahr entstanden, erkennt man keinen Unterschied. Menschenmassen in den Strassen, viele Lichter, blau-weisse Fahnen. Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat die Grossproteste gegen den Staatsumbau der extrem rechten Regierung jäh beendet. Nun scheint die Lethargie gebrochen, die Menschen zieht es wieder auf die Strasse.

Wobei: Gänzlich weg waren sie nie. Die Demonstrationen der Angehörigen von nach Gaza entführten Geiseln wuchsen rasch auf eine beachtliche Grösse an. Sie fanden auf dem Platz vor dem Tel Aviver Kunstmuseum statt, der in «Platz der Geiseln» umbenannt wurde. Nur wenige Hundert Meter entfernt verschafften sich auf dem Habima-Platz auch die Stimmen gegen die Regierung langsam wieder Gehör. Die Menschenansammlungen blieben jedoch räumlich und thematisch getrennt.

Bis am vergangenen Samstag. Eli Albag, der Vater von Liri, einer der wohl über hundert Geiseln, die sich noch in Hamas-Gefangenschaft befinden, ergriff auf dem Platz der Geiseln das Mikro und verlas ein Statement. «Dies ist der letzte Samstag, an dem wir uns hier treffen», sagte er: «Wir werden auf die Strasse ziehen.»

Koalition vor dem Ende

Es war der Beginn einer neuen Protestallianz. «Das war nicht von langer Hand geplant», sagt Maya Roman gegenüber der WOZ. Sie ist die Cousine von zwei Geiseln, von denen eine mittlerweile freigekommen ist. Sechs Monate nach dem Überfall befinden sich viele immer noch in Gefangenschaft – und jüngst wurde bekannt, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dem israelischen Verhandlungsteam praktisch gar keinen Freiraum gibt, um Fortschritte zu erzielen. «So war es an der Zeit, klarzumachen, dass wir so nicht weitermachen können», sagt Roman.

Eli Albags Aufforderung am Samstag hat ein Ventil geöffnet. Zehntausende gingen in der Folge für einen Protestmarathon in Jerusalem auf die Strasse, der bis am Mittwoch dauern sollte. Die neue Allianz richtete sich vor der Knesset in Jerusalem ein; «Geiseln, Binnenflüchtlinge und Regierung – nach Hause», stand auf einem Banner in der Zeltstadt, die vor dem Parlamentsgebäude entstand. Können die liberalen Israelis im Kampf gegen die Regierung nun Hoffnung schöpfen? Wenn sich die Hoffnung auf ein Ende von Netanjahu und seinem Kabinett beschränkt, dann ist sie keineswegs unbegründet. Allerdings liegt dies weniger am Gegenwind, der Netanjahu mittlerweile selbst aus den USA entgegenweht. Auch die Grossproteste dürften nicht so rasch zum Sturz der Regierung führen. Viel eher ist es ein koalitionsinterner Streit um ein Gesetz zur Militärpflicht für Ultraorthodoxe, der das politische Ende des Ministerpräsidenten besiegeln könnte.

Israels Ultraorthodoxe sind seit Jahrzehnten von der Militärpflicht befreit. Genauso lang ist die Regelung vielen Liberalen ein Dorn im Auge, noch verstärkt in den letzten Monaten, seit das Land Krieg führt. Zunehmend fragt man sich, warum die eigenen Kinder nach Gaza geschickt werden, während die Strengreligiösen auch noch staatlich subventioniert werden. Bereits vor sechs Jahren forderte das Oberste Gericht Netanjahus damalige Regierung dazu auf, ein entsprechendes Gesetz zu erlassen – denn es sehe keine rechtliche Grundlage für die Befreiung der Ultraorthodoxen vom Militärdienst. Darüber zerbrach die Koalition, es folgte eine Reihe von Neuwahlen.

Nun hat die jetzige Koalition, in der sowohl Strengreligiöse als auch Säkulare vertreten sind, das jüngste Ultimatum verstreichen lassen. Sie ist unfähig, sich auf ein Gesetz zu einigen. Auf Anweisung des Obersten Gerichts wurden Thora-Schüler:innen, die der allgemeinen Wehrpflicht nicht nachkommen, seit Montag letzter Woche manche staatliche Gelder gestrichen. Der Oberste Gerichtshof hat der Regierung einen letzten Aufschub von einem Monat gewährt, um einen Kompromiss zu finden. Die meisten bezweifeln, dass dies Netanjahu gelingen wird.

Mitgefangen in der Isolation

Neuwahlen sind also nicht ausgeschlossen. Aber was dann? Eine tragfähige Vision, hinter der sich eine Mehrheit der liberalen Israelis versammeln könnte, fehlt. Zwar war die Gesellschaft schon immer enorm fragmentiert – doch mit dem 7. Oktober haben sich die Vorstellungen über die grundlegende Ausrichtung des Staates so weit voneinander entfernt, dass sie sich kaum noch in Sichtweite zueinander befinden.

Bis zur Zäsur im Herbst dachten viele der Protestierenden, dass es ausreichen würde, Netanjahus autoritären Staatsumbau zu verhindern und zum vorherigen Status zurückzukehren. In diesem wird der Konflikt mit den Palästinenser:innen verwaltet, jedoch nicht gelöst. Mit dem Hamas-Überfall ist eine Rückkehr zu diesem Zustand aber für die meisten unvorstellbar geworden. Zu sehr haben die Ereignisse ihrem Sicherheitsgefühl den Boden entrissen.

Nur noch die wenigsten – namentlich jene am linken Rand – ziehen jedoch den Schluss, dass der einzige Weg zur Sicherheit ein palästinensischer Staat ist. Im Gegenteil: «Die Hamas hat uns bestialisch angegriffen, und jetzt sollen die Palästinenser dafür einen eigenen Staat bekommen?», lässt sich der Tenor in der Mehrheit der Gesellschaft zusammenfassen. Dass Gaza kurz vor einer Hungersnot steht, dass bereits Kinder an den Folgen von Mangelernährung gestorben sind: Davon ist in der israelischen Öffentlichkeit praktisch keine Rede. Auch nicht auf der Strasse.

Erschwert wird die Suche nach einer Vision auch dadurch, dass sich die Liberalen gleich doppelt in die Ecke gedrängt fühlen. Einerseits werden sie von der eigenen Regierung bekämpft. Und international steht Israel zunehmend isoliert da; das Land ist im Begriff, zum Pariastaat zu werden. Auch für die Liberalen im Land bedeutet dies: mitgegangen, mitgefangen.

Mitgefangen auch von Fantasien radikalideologischer, messianischer Siedler:innen. Sie sind – neben Ministerpräsident Netanjahu – die Einzigen, für die der Krieg eine Chance darstellt: nämlich jene auf die ersehnte Rückkehr nach Gaza. In den Siedlungen in der Westbank, aber auch in Jerusalem, sind Aufrufe ausgehängt: Darauf zu finden ist eine Telefonnummer, die anrufen kann, wer sich einer Gruppe zur Besiedlung des Gazastreifens anschliessen möchte. «Auslöschen, eindringen, bleiben», heisst es in fetten Lettern.

Die zentristische Alternative

Es ist mittlerweile dreissig Jahre her, seit Israels Friedensbewegung bei Demonstrationen ganze Strassenzüge gefüllt hat. Im Vergleich dazu befindet sie sich heute quasi im Koma. Aber: Es gibt sie noch immer, hoffnungsvolle Akteur:innen wie Thabet Abu Ras, den Kodirektor der palästinensisch-jüdischen NGO Abraham Initiatives. Selbst nach sechs Monaten Krieg, kurz nachdem die Aussicht auf einen Waffenstillstand erneut zerschlagen wurde, schreibt er auf Anfrage: «Ja, ich habe die Hoffnung, dass der 7. Oktober und der Krieg in Gaza ein Weckruf an beide Seiten sind, Schritte in Richtung Frieden zu unternehmen.» Ähnliche Stimmen sind auch bei den aktuellen Protesten auszumachen. «Der Tag danach ist jetzt – Waffenstillstand jetzt» steht auf einem der Plakate im besetzungskritischen Block. Wenig deutet aber darauf hin, dass sich eine Mehrheit im Land hinter dieser Vision versammeln könnte.

Kaum jemand zweifelt jedoch daran, dass im Fall von Neuwahlen Benjamin Netanjahus letzte politische Stunde geschlagen hätte; Umfragen zufolge würde der zentristische Benny Gantz derzeit haushoch gegen ihn gewinnen. Gantz war einst Netanjahus Militärchef und zeitweise sogar Ministerpräsident – aktuell ist er Teil seines dreiköpfigen Kriegskabinetts. Von einer Gantz-Regierung wäre zwar keine radikale Kursänderung im Gazakrieg zu erwarten, aber dennoch könnte es zu entscheidenden Veränderungen kommen. Möglicherweise wäre sie bereit, der Palästinensischen Autonomiebehörde eine grössere Rolle beim Wiederaufbau Gazas zuzugestehen. Und den Plänen der radikalen Siedler:innen dürfte sie einen Riegel schieben.

Die Demonstrationen finden heute unter anderen Vorzeichen statt als noch vor dem 7. Oktober. Sie sind nun angereichert mit viel Wut, Schmerz und grosser Ratlosigkeit. Aber gleichzeitig auch mit einer schwer greifbaren, vagen Hoffnung auf einen Wandel – ohne zu wissen, wie dieser genau aussehen soll.