Sachbuch: Der lange Weg in die Schweiz

Nr. 14 –

Buchcover von «Für dich öffne ich meine Schublade. Menschen aus Ex-Jugoslawien erzählen»
Annemarie Morgenegg: «Für dich öffne ich meine Schublade. Menschen aus Ex-Jugoslawien erzählen». Sage und Schreibe Verlag. Bern 2023. 288 Seiten. 37 Franken.

Die Autorin liest am 12. April 2024, 19 Uhr in der Bibliothek Hauptpost in St. Gallen.

«Ich war zehneinhalb Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Unsere Familie löste sich auf.» Das erzählt Nikola Burić, geboren in Bosnien, als Sohn einer Kroatin und eines Serben. Er selbst sagt, dass er keiner Religion angehöre. Er sei ein «Jugo». Burić ist einer von 21 Menschen aus Exjugoslawien, die der Autorin Annemarie Morgenegg im Sammelband «Für dich öffne ich meine Schublade» ihre Lebensgeschichte erzählen – von einer Kindheit, über die in den Schulzimmern noch Marschall Tito wachte, bis hin zum Neuanfang in der Schweiz.

Die Protagonist:innen stammen vom Land, aus der Stadt, sind Kinder von Professorinnen und Fabrikangestellten, arbeiteten später auf Baustellen, in Spitälern und Theatern. Einige kamen als sogenannte Gastarbeiter:innen, andere folgten der Liebe oder mussten vor Gewalt flüchten. Auch wenn dieses Buch nicht vom Krieg handelt – für alle Erzählenden stellt er eine Zäsur dar. Es sind eindrückliche Passagen, in denen eine Frau und ein Mann aus Bosnien erzählen, wie sie den Genozid von Srebrenica und die Belagerung von Sarajevo überlebten. «Unser Ex-Leben ist dann gestorben», sagt etwa Samra Salaga-Nefiić.

Die Geschichten sind in der Ich-Form geschrieben, fühlen sich so sehr nah an. Das ist eine Stärke des Buchs. Der ungeschliffene Erzählstil der Kapitel ähnelt sich oft stark, sodass die Frage aufkommt, wie nah das Aufgeschriebene tatsächlich am Ton der Erzählenden ist. Schwerer wiegt die fehlende Einordnung bestimmter Aussagen, gerade jener, die über die unmittelbar persönlichen Erinnerungen hinausgehen und historische Fakten postulieren. Stereotype und teils auch nationalistische Narrative bleiben so unhinterfragt stehen.

Trotz solcher Schwächen ist dieses Buch ein wichtiges Zeitdokument. Es zeigt, wie verwoben die Schweiz mit den Herkunftsländern eingewanderter Menschen ist, wie hart viele arbeiten mussten, um hier anzukommen, und wie sie Jahre darum rangen, sich dabei nicht zu verlieren. Dieses Buch würdigt Menschen, die in anderen Aufzeichnungen der Schweizer Geschichte oft unsichtbar bleiben.