Geht es abwärts mit China?

Le Monde diplomatique –

Westliche Prognosen einer  Wirtschaftskrise sind voreilig

Steht Chinas Wirtschaft kurz vor einer Vollblockade? Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die zahlreichen pessimistischen bis alarmistischen Analysen und Kommentare, die seit Jahresanfang erschienen sind. US-Präsident Biden bezeichnete die chinesische Wirtschaft als „Zeitbombe“.1 Der Londoner Economist titelte am 13. Mai: „Peak China?“

Geht es also abwärts mit China? Von einem „Peak“, einem Scheitelpunkt, sprechen auch die Politikwissenschaftler Hal Brands und Michael Beckley in einem Buch, das in Washington schon 2022 hohe Wellen schlug.2 Für sie ist die Volksrepublik eine „sinkende, aber widerstandsfähige“ Macht, deren Kriegsbereitschaft aufgrund ihrer enttäuschten Ambitionen wachsen könnte.

Ein derart düsteres Bild macht stutzig, denn Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in den ersten drei Quartalen von 2023 um 4 Prozent gewachsen. Pessimistische China-Prognosen sind in den westlichen Medien ein altbekanntes Dauerthema. In den 2000er Jahren drohte der chinesischen Wirtschaft eine „Überhitzung“; 2009/2010 war sie durch die globale Finanzkrise und den Einbruch des Welthandels gefährdet, 2015/2016 durch Überschuldung und Kapitalflucht.

Die Krisen- und Stagnationsdiagnosen sind zwar nicht immer verlässlich, aber sie wirken beruhigend auf die westlichen Eliten, von denen sie in die Welt gesetzt und gelesen werden. Hier hofft man womöglich, der Volksrepublik könnte es ähnlich ergehen wie Japan in den 1980er Jahren. Doch das damals aufkommende Szenario, wonach die USA in puncto Wirtschafts- und Finanzkraft von Japan überholt werden könnten, trat nicht ein. Verhindert wurde es durch die – von den USA gesteuerte – Stärkung des Yen, das Platzen der japanischen Immobilienblase und die anschließende lang anhaltende Deflation.

Dass dem heutigen China ein ähnliches Schicksal blüht, ist eher unwahrscheinlich. Das Land hat elfmal so viele Einwohner wie Japan und seine wirtschaftliche Entwicklung ist noch weit entfernt vom damaligen Niveau seines Nachbarn. Geopolitisch ist China ein kommunistisches und in keinen militärischen Block eingebundenes Regime. Japan ist ein zuverlässiger Verbündeter des Westens. Es ist keinesfalls zu leugnen, dass das heutige China – auf kurze wie lange Sicht – gravierende Schwachpunkte und Anfälligkeiten aufweist. Aber die gilt es in ihrem eigenen Kontext zu begreifen.

In der Volkswirtschaft Chinas sind Marktwirtschaft und Etatismus aufs Engste verbunden, was das Vorurteil widerlegt, dass mehr Markt und mehr Staat per se ein Widerspruch seien. Die allermeisten Güter und Dienstleistungen werden frei gehandelt, selbst die menschliche Arbeitskraft (wobei das Arbeitsrecht weniger Schutz bietet als in Europa), einige Sozialleistungen sind dagegen staatlich, etwa die Gesundheitsversorgung. Die Steuerlast für Privatpersonen ist gering, die Umverteilung von Reichtum begrenzt, entsprechend groß sind die Einkommensunterschiede.

Schon das macht deutlich, dass China meilenweit von einem Sozial- oder gar Wohlfahrtsstaat entfernt ist. Gleichzeitig aber sind Staatsmacht und Wirtschaftsleben in einem Ausmaß verquickt, wie es im westlichen Kapitalismus unvorstellbar wäre. Auf dem Land wie in den Städten sind Grund und Boden komplett in Händen der Kommunen, die Landwirten und Immobilienunternehmen nur Nutzungsrechte einräumen. 2021 gab es insgesamt etwa 323 000 vom Staat kontrollierte Unternehmen – vor allem in den Bereichen Infrastruktur, Energie, Schwerindustrie und im Finanzsektor.3

Auch die Privatunternehmen unterliegen dem allgegenwärtigen staatlichen Einfluss: Einerseits profitieren sie von öffentlichen Aufträgen, Subventionen und Krediten, andererseits sind sie Willkür und Repressalien ausgesetzt, wie der Fall von Jack Ma und seinem Alibaba-Konzern gezeigt hat.4

Die Herausforderungen, vor denen China steht, kann man nur richtig einschätzen, wenn man diese spezifische Wirtschaftsordnung berücksichtigt. Das erfordert insbesondere eine Unterscheidung zwischen den kurzfristigen ökonomischen Zwängen, an denen sich die erwähnten Krisenprognosen aufhängen, und den langfristigeren Problemen, die mit Themen wie Demografie, Beschäftigung und Innovation zu tun haben.

Für die schwache Wirtschaftsleistung 2022 und Anfang 2023 waren zwei Faktoren verantwortlich: die Folgen der Coronapandemie und die Immobilienkrise. Bis Dezember 2022 wurde die Wirtschaftstätigkeit in China durch die Lockdowns gebremst, dann stagnierten auch die Warenexporte, die zuvor neue Rekordhöhen erreicht hatten.

Die Abkühlung des Immobilienmarkts fällt besonders stark ins Gesicht, weil der Bausektor seit 20 Jahren einen erheblichen Teil des chinesischen BIPs ausmacht: In den 2010er Jahren lag er bei fast 30 Prozent, wenn man zur eigentlichen Bautätigkeit die vorgelagerten Branchen (Zement, Stahl) und die nachgelagerte Dienstleistungen (Verkauf, Bewirtschaftung, Instandhaltung) dazu rechnet.5 In Europa beträgt dieser Anteil nur 15 bis 20 Prozent.

Kommunen, Bauträger, staatliche Banken und Privatleute haben lange Zeit auf die Bauwirtschaft gesetzt, allerdings auf Kosten einer Verschuldung, die häufig aus dem Ruder lief. Im August 2020 schritt die Zentralregierung ein und schloss die am stärksten verschuldeten Konzerne von der Vergabe bestimmter Kredite aus. Das traf insbesondere den zweitgrößten Immobilienkonzern Evergrande, der 2021 einen Teil seiner Kredite nicht mehr bedienen konnte.6

Seit dieser Korrektur gehen Absatz und Investitionen im Immobiliensektor zurück, was zu einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums führte. Abzuwarten bleibt, wie weit die Staatsmacht in den nächsten Jahren gehen wird, um den Immobiliensektor weiter zu entschulden und sein wirtschaftliches Gewicht zu reduzieren.

Insgesamt steht die Volksrepublik vor strukturellen Herausforderungen, die daran zweifeln lassen, ob sie das Wohlstandsniveau der stärker entwickelten westlichen und asiatischen Länder erreichen kann. Das Wachstumstempo, das in den 1990er und 2000er Jahren bei durchschnittlich 10 Prozent lag, hat sich in den 2010er Jahren auf 7 bis 8 Prozent verlangsamt und beträ gt derzeit rund 5 Prozent. Das ist immer noch ein beachtliche bis beneidenswerte Zahl. Doch für China zeigt sie einen längeren ökonomischen Abschwungzyklus an, der ganz konkrete Ursachen hat.

Das Problem ist  nicht die Konjunktur

Die Konjunktur der 1980er und 1990er Jahren wurde von zwei Hauptmotoren angetrieben. Der eine war die Verlagerung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft in die Industrie, der andere der gewaltige Produktivitätszuwachs. Die unter Schmerzen geborene Marktwirtschaft erforderte neue Regeln für die Organisation der Produktionsverhältnisse. Beide Motoren verloren im Laufe der 2000er Jahre allerdings an Bedeutung. Der eine, weil die Abwanderung vom Land in die Städte schon relativ weit fortgeschritten war; der andere, weil die Produktivität zu steigern immer schwerer wurde, je weiter sich die Gesellschaft entwickelte.

Seit rund 20 Jahren basiert das Wachstum daher vor allem auf einem dritten Faktor: der beispiellosen Ausweitung des Sachkapitals (Gebäude, Anlagen, Ausrüstungsgüter). Sie wird abgebildet in der Investitionsquote, die seit 2003 bei über 40 Prozent liegt (in den westlichen Volkswirtschaften bei 15 bis 25 Prozent), was zulasten des privaten Konsums geht. Zudem ist dieser Kapitalstock großenteils schuldenfinanziert und, wie die Auswüchse im Immobiliensektors zeigen, nicht immer am Bedarf orientiert.

Der demografische Aspekt spielte ebenfalls eine Rolle: Schon jetzt steht fest, dass die niedrige Geburtenziffer – die Fertilitätsrate lag 2022 trotz Abschaffung der Ein-Kind-Politik bei 1,1 Kindern pro Frau – die Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung, die 2016 eingesetzt hat, wie auch den Rückgang der Gesamtbevölkerung noch beschleunigen wird. Die sinkende Zahl der Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt müsste eigentlich die Landflucht verstärken und junge Arbeitssuchende begünstigen, da die Industrie und der Dienstleistungssektor in den Städten immer noch Arbeitskräfte suchen.

Stattdessen passiert genau das Gegenteil: Die Zahl der mingong, der Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten wächst langsamer, und in den Städten stieg die Arbeitslosenquote bei den 16- bis 24-Jährigen zwischen Januar 2019 und Juni 2023 von 10 auf 21 Prozent; mittlerweile werden die entsprechenden Zahlen nicht mehr veröffentlicht.

Der wachsende Unmut der jungen Generationen äußert sich in den Sozialen Medien. Dabei stößt man immer öfter auf den Begriff „Involution“ (nèi juǎn), der einen Prozess der Rückbildung bezeichnet. Damit wird die erbitterte Konkurrenz nach dem Grundsatz „jeder gegen jeden“ als gesellschaftlicher Rückschritt kritisiert. Oft ist auch vom „Schnittlauchschneiden“ (gē jiǔcài) die Rede, was sich auf die essbare Lauchpflanze bezieht, die nach dem Schneiden von selbst nachwächst – wie die ungelernten Arbeitskräfte, die wie Wegwerfware behandelt werden.

Die Wirtschaft scheint immer weniger in der Lage zu sein, die Neuankömmlinge zu absorbieren. In der Fertigungsindustrie liegt das teils an der Automatisierung, teils an der Umstellung von der Produktion mittels vieler billiger Arbeitskräfte (Spielwaren, Textilien, Montage von Elektronikartikeln) auf kapitalintensivere Produktionsprozesse, etwa in der Batterie- oder Halbleiterfertigung.

Der Preis für den technologischen Fortschritt ist also eine stagnierende oder gar sinkende Zahl industrieller Arbeitsplätze. Allerdings sind auch die jungen Menschen – unabhängig vom Bildungsniveau – immer weniger bereit, das Fabrikleben mit seinem kasernenartigen Alltag in den Massenunterkünften klaglos hinzunehmen.

Der Dienstleistungssektor bietet auf der einen Seite qualifizierte White-Collar-Jobs, die jedoch bei der stetig steigenden Zahl von Hochschulabsolventen (2023 etwa 11,6 Millionen) nicht ausreichen; auf der anderen Seite beschäftigt er ein gnadenlos ausgebeutetes Dienstleistungsproletariat, dessen Sinnbild der Delivery-Fahrer ist, der ständig gehetzt seine überlangen Schichten absolviert.

Die Herausforderungen sind also womöglich andere als gemeinhin angenommen. Und der von westlichen Medien prophezeite Finanzcrash ist schon insofern unwahrscheinlich, als die meisten Gläubiger (allen voran die Banken) und ein Großteil der Kreditnehmer staatliche Akteure sind, deren Handeln notfalls von oben koordiniert werden kann.7

Auch die in Washington so beliebte These, China sei mittlerweile eine Macht auf dem absteigenden Ast, ist nicht besonders überzeugend. Trotz ungünstiger demografischer Entwicklung und geopolitischer Turbulenzen geht die Expansion der chinesischen Wirtschaft weiter – zwar langsamer als früher, aber immer noch schneller als in den westlichen Ländern.

Falls die „Korrektur“ im Immobiliensektor durchgezogen wird, scheint sogar ein qualitativ verbessertes Wachstum möglich – angeschoben durch technologische Aufholprozesse und industrielle Innovationen statt durch Bagger und Planierraupen. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung entsprechen inzwischen 2,6 Prozent des chinesischen BIPs (2000 waren es nur 0,9 Prozent).8

Die chinesische Volkswirtschaft erzielt, bezogen auf die verarbeitende Industrie, eine Wertschöpfung wie die USA und die Europäische Union zusammen.9 Weder in der neuen Green Economy (erneuerbare Energien, Batterien) noch in den wichtigsten Branchen der Fertigungsindustrie (Ausrüstungsgüter, Elektronik) ist ein Rückgang der Produktionskapazität zu beobachten. Im Gegenteil: Das Handelsdefizit der EU gegenüber China erreichte 2022 einen neuen Rekord.

Die Probleme des chinesischen Entwicklungsmodells liegen eher anderswo. Nämlich vor allem darin, dass eine Volkswirtschaft im Umbruch nicht genügend qualitativ hochwertige Arbeitsplätze bereitstellen kann, um die Bedürfnisse und Ansprüche der nachrückenden Generationen zu erfüllen. Die müssen sich, obwohl sie höhere Bildungsabschlüsse und bessere Qualifikationen als ihre Eltern und Großeltern haben, dennoch vor Arbeitslosigkeit und Verarmung fürchten. Allerdings gibt es enttäuschte Hoffnungen – über berufliche Chancen und ein besseres Leben – nicht nur in China.

1 Michael D. Shear, „Biden Describes China as a Time Bomb over Economic Problems“, The New York Times, 11. August 2023.

2 Hal Brands und Michael Beckley, „Danger Zone: The Coming Conflict with China“, New York (W. W. Norton) 2022.

3 Nationales Statistikamt der Volksrepublik China, data.stats.gov.cn.

4 Jordan Pouille, „Alibaba Supermacht“, LMd, März 2021.

5 Kenneth S. Rogoff und Yuanchen Yang, „Peak China Housing“, Arbeitspapier 27697, National Bureau of Economic Research, Cambridge, Massachusetts, 2020.

6 Thomas Hale, „Beijing turns the screws on China’s property sector“, Financial Times, London, 26. Januar 2021.

7 Nathan Sperber, „Une finance aux ordres. Comment le pouvoir chinois met le secteur financier au service de ses ambitions“, Institut Rousseau, Paris, 5. Dezember 2020.

8 In Deutschland lagen diese Ausgaben 2021  bei 3,1 Prozent des BIPs.

9 Statistik der Weltbank, data.worldbank.org.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Nathan Sperber ist Soziologe und forscht an der Universität Fudan in Schanghai.