Terroranschlag in Moskau: Auf das Versagen folgt die Härte

Nr. 13 –

Nach dem blutigen Attentat vom Freitagabend demonstrieren Russlands Behörden rohe Tatkraft. Die Erklärungen des Regimes lassen aber viele Fragen offen – und alte Wunden reissen wieder auf.

«Wir trauern», steht am Tag nach dem dschihadistischen Angriff auf einer Fassade in der russischen Hauptstadt
«Wir trauern», steht am Tag nach dem dschihadistischen Angriff auf einer Fassade in der russischen Hauptstadt. Foto: Maxim Shemetov, Reuters

Die Crocus City Hall, direkt hinter der Moskauer Stadtgrenze gelegen, zählt zu den allerbesten Adressen im russischen Showgeschäft. Am vergangenen Freitagabend, dem 22. März, sollte dort die seit Sowjetzeiten populäre Rockband Piknik auftreten; aus fast der Hälfte aller russischen Regionen waren Fans angereist, die Konzerthalle mit ihren 7000 Plätzen war praktisch ausverkauft.

Der fröhliche Start ins Wochenende endete grausam. Bei einem Terroranschlag verloren nach offiziellen Angaben mindestens 140 Menschen ihr Leben, knapp 100 zum Teil schwer Verletzte werden noch in Spitälern behandelt.

Ein Glied in einer Kette?

Gegen 20 Uhr, das Konzert hatte noch nicht begonnen, betraten mehrere unmaskierte, bewaffnete Männer den Eingangsbereich des Veranstaltungskomplexes. Mit ihren Kalaschnikowgewehren zielten sie auf alles, was sich bewegte. Die Notausgänge waren teils versperrt, Toiletten wurden zur Todesfalle. Einer der sehr gezielt vorgehenden Attentäter legte an mehreren Stellen im Gebäude Feuer, das sich in Windeseile ausbreitete. Allein aufgrund der Rauchentwicklung schafften es etliche Besucher:innen nicht mehr, sich auf die Strasse zu retten. Schliesslich stürzte das Dach ein.

Offenbar hatten es die Täter nicht darauf angelegt, beim Anschlag selbst getötet zu werden. Nach einer Viertelstunde ergriffen sie die Flucht in einem weissen Renault, mit dem sie bereits zum Tatort gefahren waren. Obwohl von Überwachungskameras erfasst, wurde das Auto erst Stunden später gestoppt, weit südwestlich von Moskau, nahe der ukrainischen und belarusischen Grenze. Die vier Insassen befinden sich in Untersuchungshaft. Sie alle sind tadschikische Staatsangehörige, drei von ihnen in Russland ansässig – teils legal, teils ohne gültige Aufenthaltspapiere.

Insgesamt acht Personen, die der Beteiligung verdächtigt werden, wurden mittlerweile dem Haftrichter vorgeführt. Zahlreiche Indizien deuten auf einen islamistischen Terroranschlag hin, darunter eine Mitteilung der Terrormiliz Islamischer Staat Provinz Chorasan, kurz ISPK, verbreitet über das IS-eigene Nachrichtenportal Amak. Die Splittergruppe des dschihadistischen IS konzentriert sich mit ihren Aktivitäten im Wesentlichen auf Afghanistan, Pakistan und den Iran. Die russische Investigativplattform «Insider» kam nach einem Vergleich der bei Amak veröffentlichten Fotoaufnahme mit Bildern nach der Festnahme zum Schluss, dass es sich bei den Abgebildeten um dieselben Personen handle.

Unabhängige Quellen, etwa der Politologe und anerkannte Afghanistanexperte Andrei Serenko oder das vom früheren Oligarchen Michail Chodorkowski finanzierte Investigativrecherchenetzwerk «Dossier Center», wiesen darauf hin, dass die russischen Sicherheitsbehörden die Aktivitäten des ISPK eigentlich aufmerksam verfolgt hätten. Mehr noch, Russlands nationaler Sicherheitsrat sei darüber informiert gewesen, dass tadschikische Staatsangehörige möglicherweise einen Anschlag in Russland geplant hätten. Der tadschikische Geheimdienst hat seine Kenntnisse dazu mit Russland geteilt, und die US-Botschaft in Moskau hatte bereits vor dem 8. März auf Anzeichen für geplante Terroranschläge hingewiesen. Präsident Wladimir Putin hat die Warnung drei Tage vor dem Anschlag öffentlich als «Erpressung» abgetan sowie als Versuch, die russische Gesellschaft zu verunsichern.

Mittlerweile sei zwar klar, dass die Ausführung des Terrorakts auf das Konto radikaler islamistischer Gruppen gehe, erklärte er seither. Ihn interessiere nun aber die Frage nach den Drahtziehern, so Putin. Er bewertet das Attentat als ein Glied in einer ganzen Kette terroristischer Aktionen – und zwar von Kräften, die seit 2014 gegen Russland kämpften. Damit meint er vor allem die Ukraine.

Isolierte Behörden

Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die geopolitischen Konstellationen unter kräftigem Mittun Russlands entscheidend verändert – und mit ihnen die Voraussetzungen und der Aktionsradius verschiedener Terrormilizen. Mit der Ukraine hat das allerdings höchstens bedingt zu tun.

Dass Russland ins Visier des IS geraten ist, dürfte mehrere Gründe haben: zuallererst die Beteiligung des russischen Militärs am Syrienkrieg aufseiten des Präsidenten Baschar al-Assad seit 2015. Eine Rolle könnte zudem der harsche Umgang mit Muslim:innen insbesondere aus Zentralasien spielen, die in Russland grosser Behördenwillkür und Schikanen vonseiten der Polizei ausgesetzt sind. Offenbar ist der ISPK zudem darum bemüht, in zentralasiatischen Staaten an Einfluss zu gewinnen. Und im Nordkaukasus, auf russischem Staatsgebiet, machen sich ebenfalls Strukturen der Terrormiliz bemerkbar. So vermeldeten russische Sicherheitsbehörden just am Morgen des 22. März die Festnahme von dreissig Personen in Inguschetien, die IS-Kämpfer unterstützt haben sollen. Ein paar Wochen zuvor waren dort mehrere Dschihadisten einer anderen Strömung getötet worden. Schon seit Jahren geht der Sicherheitsapparat in der Region rigoros gegen islamistische Gruppierungen vor.

Und doch gibt es einen erheblichen Einschnitt, der mit der Ukraine in Verbindung steht. Oder besser gesagt: mit Russlands militärischer Aggression seit 2014 und dem vor gut zwei Jahren begonnenen Angriffskrieg. Die Bekämpfung grenzübergreifend agierender Terrororganisationen basiert schliesslich auf einem koordinierten Informationsaustausch zwischen den Geheimdiensten verschiedener Länder. Und im gegenwärtig von tiefen Gräben und Misstrauen geprägten internationalen Klima ist eine enge Zusammenarbeit, wie sie zum Beispiel noch während der 2018 in Russland ausgetragenen Fussballweltmeisterschaft gepflegt wurde, schlichtweg nicht mehr vorstellbar.

Hinter den Kulissen dürfte eine pragmatische Zusammenarbeit zwar noch immer möglich sein, aber offiziell liess Kremlsprecher Dmitri Peskow verlauten, dass die Ermittlungen in Moskau derzeit ohne Austausch mit ausländischen Geheimdiensten geführt würden. Die im Londoner Exil lebenden Buchautor:innen und ausgewiesenen Expert:innen für den russischen Geheimdienst FSB, Irina Borogan und Andrei Soldatow, hielten in einem Podcast der Internetzeitung «Meduza» fest, dass die Behörde prinzipiell in der Lage sei, professionelle Ermittlungsarbeit zu leisten. Bei der Präventionsarbeit hingegen hapere es gewaltig. Während eine öffentliche Kontrolle über den FSB heute gänzlich fehle, sei dessen Tätigkeit vor allem auf Repression und Folter ausgerichtet.

Gewollt brutale Bilder

Einem der mutmasslichen Täter wurde nach der Festnahme ein Ohr abgeschnitten, laut Hinweisen aus nationalistischen Kreisen von einem russischen Neonazi in Uniform. Auch drei weitere Verhaftete machten beim Haftprüfungstermin den starken Eindruck, misshandelt worden zu sein. Der Wahrheitsfindung ist dies kaum dienlich, die Verbreitung solcher Bilder ist aber gewollt: Sie suggerieren schnelle Ermittlungsergebnisse und eine gnadenlose Bestrafung. Bereits wurden Forderungen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe laut – während sich an den Folterspuren kaum jemand zu stören scheint. Migrant:innen sind alarmiert: Ausgeweitete polizeiliche Massnahmen sind zu erwarten, eine Verschärfung des Aufenthaltsrechts wurde angekündigt, eine Neonazigruppe hat zu rassistisch motivierten Vergeltungsaktionen aufgerufen. Bereits häufen sich Berichte zu entsprechenden Vorfällen. «Tod den Nichtrussen», brüllte ein Mann, der am Montag in einem Moskauer Spielsalon mehrere Anwesende mit einem Messer verletzte.

Die Liste in Russland verübter Terroranschläge ist erschreckend lang, auch wenn der letzte mit derart hohen Opferzahlen Jahre zurückliegt. Längst verdrängte schmerzliche Erinnerungen werden nun wieder wach: ob an die Explosion von Wohnhäusern 1999 in der Hauptstadt, oder an die Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 und an einer Schule im nordossetischen Beslan 2004. Überlebende, ja die gesamte russische Gesellschaft mussten lernen, ohne glaubwürdige Antworten auf viele offengebliebene Fragen zu leben. Denn Putins Machtapparat verweigert grundsätzlich die Aussage, wenn es um eigenes Versagen geht.

Härte demonstrieren um jeden Preis – so lautet stattdessen die Devise. Auf Kosten von Menschenleben, die womöglich hätten gerettet werden können.