Taiwan: «Unsere Existenz ist eine einzige Provokation»

Nr. 9 –

Taiwan wird seit Jahren als nächster gefährlicher Kriegsschauplatz gehandelt. Was macht die ständige Bedrohung eines chinesischen Angriffs mit den Menschen auf der Insel, wie gehen sie mit der Situation um?

die zu Taiwan gehörige Löweninsel direkt vor der chinesischen Stadt Xiamen
Nimmt Xi Jinping sie bald ein, um sein Gesicht als grosser Macker zu wahren? Die zu Taiwan gehörige Löweninsel direkt vor der chinesischen Stadt Xiamen. Foto: Tyrone Siu, Reuters

Immer lächeln sie, die Taiwaner:innen, wenn ihnen diese Frage gestellt wird. Mal ist es nachsichtig sanft angedeutet, mal etwas gequält in die Ferne blickend. Wird es hier auf der Pazifikinsel mit den knapp 23 Millionen Einwohner:innen zu einem Krieg kommen? Wird China die jahrzehntelange Drohung wahr machen und sich mit Taiwan, das es als abtrünnige Provinz betrachtet, «wiedervereinigen»? Notfalls mit Gewalt, wie es Chinas Staatschef Xi Jinping erst zu Neujahr wieder betonte?

«Es wird passieren, aber das Ausmass oder die Form des Krieges entspricht möglicherweise nicht unseren Vorstellungen», sagt Kuochun Hung. «Es wird vermutlich wie Russlands Angriff auf die Krim 2014 werden.» Auch Taiwan besitze kleine Inseln unmittelbar vor Chinas Küste. Es wäre ein Leichtes, diese einzunehmen, und Xi könnte sein Gesicht als grosser Macker wahren, meint Hung und lächelt.

Hung sitzt in Taipeh, Taiwans Hauptstadt, im Besprechungsraum seiner Organisation Watchout. Die Medienplattform gilt auf der Insel als führende Informationsquelle in Sachen ziviler Widerstand, Souveränität und die Beziehungen zu China. Anfang 2022 brachte Watchout eine Broschüre heraus, um Zivilist:innen auf das Worst-Case-Szenario eines chinesischen Angriffs vorzubereiten. Auf dem Tisch zeigt der 36-Jährige Beispiele, an denen man sich dabei orientiert hat: Es sind Publikationen aus Litauen, Estland, Schweden und Polen – Taiwans Schicksalsgenoss:innen.

Portraitfoto von Kuochun Hung
Kuochun Hung, Watchout
Portraitfoto von Jimmy Chia-Shin Hsu
Jimmy Chia-Shin Hsu, Jurist
Portraitfoto von Jordan Wang
Jordan Wang, Schüler
Portraitfoto von Peng Wei-chao
Peng Wei-chao, Drehbuchautorin

Auch sie sind bedroht von einer autokratischen Grossmacht, die bei ihnen eines Tages ihren imperialen Durst stillen könnte. Auf diesen Tag gilt es sich vorzubereiten. Taiwans Regierung hat in den vergangenen Jahren das Militärarsenal aufgestockt, die Beziehungen zum Verbündeten USA vertieft, Russlands Krieg gegen die Ukraine akribisch studiert. Vorbereitung bestimme die politische Dynamik, findet Kuochun Hung. Nur so könnten die Taiwaner:innen den Preis einer Invasion für China in die Höhe treiben. Es gelte zu signalisieren, dass es nicht einfach sein wird, sich die Insel einfach so einzuverleiben.

Ansprechend ist die Broschüre von Watchout, als Cartoon gezeichnet, mit einem bärchenähnlichen Charakter in der Hauptrolle, der erklärt, wie man sich im Ernstfall verhalten muss. Sachte müsse man die Leute an das Thema heranführen. «Wenn man es zu ernst tut, liest es keiner», sagt Hung. Zumal sich die breite Bevölkerung nicht so gern mit dem Krieg auseinandersetzt. Sie will eher dem taiwanischen Savoir-vivre gerecht werden und am Tag höchstens eine essenzielle Frage beantworten: Wo esse ich als Nächstes?

«Uns fehlt die Zeit»

Die Gelassenheit der Taiwaner:innen ist erstaunlich. Man hat sich an die chinesische Drohkulisse gewöhnt. Doch ist dabei auch einiges an Verdrängung im Spiel. Denn die Frage, wie man zum Krieg und damit auch zu China steht, rührt tief an der Identität eines Staates, dem es an einer inklusiven Erzählung fehlt, wie der Rechtswissenschaftler Jimmy Chia-Shin Hsu urteilt.

«Eine solche braucht es, um die Menschen auf einen Krieg einzuschwören», sagt er. Der Fünfzigjährige sitzt im berühmten Teehaus Wistaria in Taipehs Universitätsviertel. Hier haben sich früher die Dissident:innen getroffen, um über ein freies Taiwan zu philosophieren. Viele fielen der Diktatur der Kuomingtang-Partei unter der Führung von General Chiang Kai-shek zum Opfer. Chiang, einst Präsident der Republik China, floh 1949 nach seiner Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg gegen die Truppen des Kommunisten Mao Zedong mit rund zwei Millionen Festlandchines:innen nach Taiwan. Hier proklamierte er die provisorische Regierung der Republik China und herrschte mit eiserner Faust.

Über drei Jahrzehnte galt das Kriegsrecht, erst Ende der achtziger Jahre begann der Demokratisierungsprozess, der 1996 zu den ersten freien Wahlen führte. Seither hat sich Taiwan in Rekordgeschwindigkeit zur Demokratie entwickelt. Eine schöne Geschichte, die aber bei weitem nicht als nationales Narrativ reicht, meint Hsu. Zu tief seien die Brüche in der Gesellschaft, zwischen jenen, die beispielsweise Chiang als brutalen Diktator verachten, und jenen, die ihn trotz allem als historische Figur würdigen wollen. In anderen Ländern würden solche Konflikte über Generationen ausgefochten. «In Taiwan fehlt uns die Zeit dafür, wir müssen uns auf den Krieg vorbereiten», sagt Hsu, «und dafür braucht es eine geeinte Front im Inneren.»

Mental gewappnet

Die nächsten Jahre könnte das mit der geeinten Front etwas schwierig werden, befindet die Drehbuchautorin Peng Wei-chao. Im Januar fanden in Taiwan Wahlen statt. William Lai, der bisherige Vizepräsident der chinakritischen Fortschrittspartei (DPP), hat sie gewonnen. Er bescherte der DPP damit eine dritte Amtszeit. Im Parlament konnte die Partei die Mehrheit nicht halten und muss sich von nun an mehr mit der chinafreundlichen Kuomingtang und der Taiwanischen Volkspartei arrangieren. Das könnte anstrengend für Lai werden, prophezeit Peng. Sie hat 2016 und 2020 im Präsidentschaftswahlkampf der DPP im Social-Media-Team gearbeitet. Ausgehend von ihren Erfahrungen hat die Autorin mit ihrer damaligen Gattin Chien Li-ying das Drehbuch für die Netflixserie «Wave Makers» geschrieben – und prompt eine #MeToo-Welle in Taiwan ausgelöst.

In der Serie folgt das Publikum einer toughen Wahlkampfmanagerin, einer Präsidentschaftskandidatin und einer jungen Mitarbeiterin, die sexuell belästigt wird – und sich dagegen wehrt. Ausserdem werden Themen wie Klimaschutz, abwesende Väter und die in Taiwan noch praktizierte Todesstrafe verhandelt. Alles kommt zur Sprache, bis auf eine Sache: China. Dafür gab es viel Kritik. «Mit China wäre es schwer gewesen, die Show zu verkaufen», sagt Peng. Es hätte Leute abgeschreckt, zu sehr hängt die Parteipolitik an der Position zu China. Schnell könnte die Serie damit als tendenziös für die eine oder andere Seite betrachtet werden. Aber Peng ist optimistisch, dass der bisherige Erfolg es ihnen erlauben wird, China in der zweiten Staffel ausführlich zu behandeln, denn «es ist das einzig reale Problem in Taiwan, dem wir uns jeden Tag stellen müssen».

Sie selbst tut das auf ihre Art. Aus ihrer Tasche zieht die 36-Jährige einen zusammengefalteten Gurt mit einem kleinen Schlauch dran. Es ist ein Tourniquet, eine Aderpresse, um Blutungen zu versorgen. Im Kurs der Kuma Academy, die Zivilist:innen in Erste Hilfe, Selbstverteidigung oder Survival Gardening für den Kriegsfall ausbildet, hat sie gelernt, wie sie diese anwenden muss.

Es ist ihre Art, China die Stirn zu bieten. «Manche glauben, wenn wir aufgeben und bloss nicht provozieren, werden sie uns nicht angreifen. Aber unsere Existenz ist eine einzige Provokation für China», sagt sie. Die Autorin nimmt es mit der Vorbereitung ernst. Sie hat sogar acht Stunden lang an einem Schiessworkshop teilgenommen. Mit Spielzeugpistolen. «Es geht mehr darum, psychisch vorbereitet zu sein, als tatsächlich irgendwann eine Waffe zu benutzen.»

«Wir müssen aufs Schlachtfeld»

Jordan Wang kann das Vorbereitungsgerede nicht mehr hören. Taiwan würde China so nur aufstacheln, findet er. Sollte der Tag X vor der Tür stehen, würde er zu jenen zählen, für die es richtig ernst wird: Am 1. Januar wurde die Wehrpflicht von vier auf zwölf Monate verlängert. Die neue Regelung betrifft alle Jungen der Jahrgänge nach 2005. Und damit auch Jordan Wang. Der siebzehnjährige Schüler weiss, was das bedeuten kann. «Wer wird dann auf das Schlachtfeld müssen? Wir!», sagt er. «Ich habe Angst, dass ich irgendwann wirklich kämpfen muss.»

Wang will kein Soldat sein. Er will Dokumentarfilmer werden, in den USA studieren, vielleicht sogar auf Dauer dort leben. Krieg ist in seiner Lebensplanung nicht vorgesehen. Er erinnert sich an den Tag, als auf seiner digitalen Uhr im Unterricht die Nachricht über den russischen Angriff auf die Ukraine aufploppte. Nah hat er sich damals der Welt gefühlt. Und den Ukrainer:innen. Er will sich ihnen nicht noch näher fühlen.