Behinderung und Zugänglichkeit: Crip und klar

Nr. 6 –

Edwin Ramirez engagiert sich für die Rechte von marginalisierten Personen – insbesondere von Menschen mit Behinderung. Ramirez protestiert auf der Strasse, aber auch auf Theaterbühnen.

Portraitfoto von Edwin Ramirez
«Leute haben mir doofe Fragen gestellt, und irgendwann habe ich gemerkt: Ich kann auch einfach doofe Antworten geben»: Edwin Ramirez.

Mit den türkisgrün und pink gefärbten Locken sticht Edwin Ramirez (34) auf den Fotos der Protestaktion Ende Januar heraus. Demonstrant:innen halten Schilder mit Slogans wie «Vom ÖV behindert», «Hört auf, uns noch mehr zu behindern» und «Hässig» in die Höhe. Viele von ihnen sitzen wie Ramirez im Rollstuhl.

Für ihre Aktion hatten sie sich zweifellos den perfekten Ort ausgesucht: Sie trafen sich neben dem Wahrzeichen des SBB-Hauptsitzes im Berner Wankdorf – einer überdimensionalen Bahnhofsuhr.

Rund zwanzig Jahre lang hatten die Verantwortlichen der verschiedenen Verkehrsbetriebe und Behörden Zeit gehabt, das Behindertengleichstellungsgesetz  (BehiG) umzusetzen und den Zugang zum öffentlichen Verkehr barrierefrei zu gestalten. Doch trotz der langen Übergangsphase sind nach Ablauf der Frist im letzten Jahr laut Angaben des Bundesamts für Verkehr lediglich sechzig Prozent der Bahnhöfe und ein Drittel der Bushaltestellen für Menschen mit Behinderung ohne fremde Unterstützung zugänglich (siehe WOZ Nr. 46/23).

Spontane Organisierung

«Als das Behindertengleichstellungsgesetz 2004 in Kraft trat, war ich vierzehn Jahre alt», erinnert sich Ramirez eine Woche nach der Protestaktion. «Ich weiss noch, wie ich damals dachte: Okay, ich werde zwanzig Jahre warten müssen und uralt sein – aber immerhin wird es dann gemacht sein.» Ramirez erzählt es und lacht dann ein typisches fröhliches und keuchendes Lachen, seinen Oberkörper leicht vor und zurückbeugend.

An diesem Tag sitzt die Person, die sich weder als Mann noch als Frau definiert, in der Bar Gleis in Zürich in ihrem schwarzen Rollstuhl, vor sich einen Cappuccino, hinter sich den Wirrwarr aus Gleisen unweit des Zürcher Hauptbahnhofs. In den Ohren trägt Ramirez Stecker in der Form von Blitzen, einer türkis, der andere pink, in den gleichen Farben wie die Locken.

Den Treffpunkt hat Ramirez nicht wegen des Themas vorgeschlagen: «Die ‹Gleis›-Bar ist quasi mein Büro.» Sie liegt im ersten Stock des Zollhauses, das nicht nur Geschäftsräumen und Büros, sondern auch Genossenschaftswohnungen Platz bietet. Hier wohnt Ramirez.

Edwin Ramirez im Rollstuhl

Der Protest bei den SBB sei unter anderem deshalb schön gewesen, weil er spontan entstanden sei. Auf Whatsapp hätten sich ein paar befreundete Personen kurzgeschlossen und die Sache gestreut, wenige Tage später seien viel mehr Leute als erwartet aufgetaucht. Im Hintergrund stand keine Organisation, die die Fäden in der Hand hielt.

Comedy als Ventil

Edwin Ramirez wuchs als Kind eines Vaters aus der Dominikanischen Republik und einer spanischen Mutter in Zürich auf. Nach der Sonderschule folgte das KV, dann Jobs bei IBM und längere Zeit bei der Swisscom als Marketingassistent. Ramirez war froh, eine Stelle zu haben, aber nicht mit Herzblut dabei. «Trotz guter Noten und Arbeitszeugnisse hatte ich immer wieder Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden, die mir wirklich gefällt. Die Leute hatten Berührungsängste und wussten nicht, was ich brauche, damit ich arbeiten kann.»

Vor zwei Jahren hat sich Ramirez als kunst- und kulturschaffende Person selbstständig gemacht. Im Rollstuhl sitzt Ramirez schon das ganze Leben lang: Zerebralparese. Die Frage nach dem Grund der Behinderung sei oft zu hören – besonders im Ausgang. «Sobald ein bisschen Alkohol im Spiel ist, fallen die Hemmungen.» Die Frage sei vergleichbar mit «Woher kommst du?». Auch diese soll Ramirez regelmässig beantworten.

Wie sehr Ramirez «nett gemeinte» Fragen wie die erwähnten nerven oder verletzen, hänge stark von der Tagesform ab. Vor bald zehn Jahren fand Ramirez ein produktives Ventil zur Verarbeitung negativer Erfahrungen. «Leute haben mir doofe Fragen gestellt, und irgendwann habe ich gemerkt: Ich kann auch einfach doofe Antworten geben.» Das war der Startschuss für die Comedykarriere.

«Eddie» Ramirez trat ab 2015 mit einem Stand-up-Programm auf grossen und kleinen Bühnen auf, spielte im Bernhard-Theater in Zürich und war mehrfach zu Gast bei SRF, etwa in der Sendung «Deville». Irgendwann war genug: «In der Stand-up-Comedy-Szene traf ich immer wieder auf Leute, die sich sexistisch, homophob oder rassistisch äusserten. Leute, die witzig sein mit schockieren verwechseln.» Ramirez blieb zwar der Bühne treu, wechselte aber das Genre: von Comedy zu Performance und Theater.

Dieser Wechsel wurde von einem anderen wichtigen Aspekt in Ramirez’ Leben gefördert: dem Aktivismus. Ungefähr zeitgleich mit dem Einstieg ins Showbusiness begann Ramirez, sich zunehmend politisch zu engagieren. So beteiligte sich Ramirez 2016 etwa an der Gründung des Instituts Neue Schweiz (Ines), eines Thinktanks, der sich aus postmigrantischer Sicht mit politischen Fragen beschäftigt.

Aufgrund des Engagements bei Ines wurde Ramirez 2017 eingeladen, bei einem Performanceprojekt mitzumachen, was wiederum zu einer Produktion am Theater Gessnerallee führte, wo Ramirez Nina Mühlemann kennenlernte. Gemeinsam mit der Künstlerin und Wissenschaftlerin, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt, gründete Ramirez Criptonite, ein «crip-queeres» Theaterprojekt.

Zugänglichkeit im Theater

Crip, das ist Englisch für «verkrüppelt». «Wir bezeichnen uns als crip oder behindert», erklärt Ramirez, «auch als Ausdruck eines Selbstbewusstseins.» Die Begriffe seien lange negativ konnotiert gewesen, die Behindertenrechtsbewegung habe sie sich aber wieder angeeignet. «Ich nenne mich behindert, weil meine Behinderung ein wichtiger Teil von mir ist, es definiert, wie ich mich in der Welt bewege.»

Beim Projekt Criptonite, dessen Namen auch an den Planeten Krypton, Heimat des Comic-Helden Superman, angelehnt ist, spiele Behinderung nicht nur als Thema eine Rolle, sondern werde auch in den Arbeitsprozessen verhandelt, so Ramirez. «Was bedeutet Zugänglichkeit für die Künstler:innen, für das Publikum, für die ganze Produktion? Wie nimmt man Rücksicht auf besondere Bedürfnisse?» Auf der Theaterbühne liessen sich viel freiere, verrücktere Sachen machen als in der Comedy, es gebe eine breitere Palette an Emotionen, um damit zu arbeiten. Und Criptonite verbinde verschiedene wichtige Dinge, betont Ramirez. Besonders das Thema Zugänglichkeit. Hier habe die Gesellschaft als Ganzes Nachholbedarf.

Der öffentliche Verkehr sei bloss ein Bereich unter vielen – allerdings ein für ein selbstbestimmtes Leben sehr wichtiger. «Auch Menschen mit Behinderung wollen mal spontan sein oder auch einfach direkt da aussteigen, wo sie hinmüssen», so Ramirez. Solange die SBB und andere Verkehrsbetriebe nicht auf die Forderungen der Aktivist:innen eingingen, seien weitere Protestaktionen wahrscheinlich. Das Ziel sei klar: «Druck aufsetzen.»