Auf allen Kanälen: Blinde Flecken auf Wikipedia

Nr. 6 –

Alles, was randständig ist, hat es in der Internetenzyklopädie schwer. Zeit, mehr Energien auf die Hegemoniemaschine Wikipedia zu richten.

stilisiertes Ausschnitt aus dem Wikipidia-Logo

Der Überfall der Hamas auf Israel und der Gazakrieg haben auch in der deutschsprachigen Wikipedia für Kontroversen gesorgt: So wurde der am 4. Dezember angelegte Artikel «Humanitäre Krise im Gazastreifen 2023» noch am selben Tag zur Löschung vorgeschlagen: Jeder Krieg sei eine humanitäre Krise, der Eintrag daher überflüssig. Zunächst aber blieb er online, inzwischen wurde er entfernt. Auch sonst wird um die Deutung der Ereignisse und damit zusammenhängende Begriffe gerungen.

Vor allem aber ist Wikipedia eine vielfach genutzte Recherchequelle. Das Wissen darum, wie das Internetlexikon funktioniert, ist jedoch nicht gut ausgeprägt. Noch seltener wird erkannt, wie bedeutsam Wikipedia für die Verbreitung linken Wissens ist, gerade in den Kulturkämpfen der Gegenwart. Die Enzyklopädie ist dabei Abbild der Gesellschaft: An vielen Stellen wird heftig diskutiert, beleidigt, verbissen um Worte gerungen. Es tummeln sich hier rechte wie linke Autoren genauso wie Wissenschaftlerinnen, Politikerbüros oder bezahlte Schreiberinnen.

«Edit Wars» ums Gendern

Der Artikel «Geschlechtergerechte Sprache» zum Beispiel wurde von fast 500 Autor:innen bearbeitet und umfasst über 123 000 Zeichen (Stand: 5. Februar). Auf der zugehörigen Diskussionsseite lassen sich die erwähnten Kämpfe gut erkennen: Linke gegen Rechte, Feministinnen gegen misogyn argumentierende Männer. Die Versionengeschichte zeigt, dass der Artikel seit Mai 2020 über 2000 Mal bearbeitet wurde.

Ein Nutzer, dessen Anteil bei über achtzig Prozent an der Gesamtzeichenzahl beträgt, hat den Artikel nach und nach mit zahlreichen Belegen völlig Wikipedia-konform ausgearbeitet. Am 30. Mai 2020 kam es dann zu Störaktionen, die vor allem die Kritik an der gendergerechten Sprache betrafen: Es wurde versucht, «genderkritische» Positionen in den Artikel einzubauen, wenig überraschend von männlichen Autoren. Dies mündete in wiederholten «Edit Wars».

In diesem Fall wurde der Angriff auf eine ausgewogene Darstellung abgewehrt. Bei weniger beachteten Themen sieht das anders aus. So blieb etwa der linken Zeitschrift «Tagebuch – Zeitschrift für Auseinandersetzung» trotz aller Bemühungen ein eigenständiger Artikel in Wikipedia verwehrt.

Wikipedia ist eine Hegemoniemaschine: Gemäss den eigenen Relevanzkriterien kann nur etabliertes Wissen Eingang finden, alles Randständige läuft Gefahr, gelöscht zu werden. Im Fall der gendergerechten Sprache ist progressives Wissen weit genug in den Mainstream eingesickert. Aber alles in allem spiegelt Wikipedia die bestehende Ordnung wider – in politischer, ökonomischer und wissensbasierter Hinsicht. Theoretische Zugänge, Personen oder Bücher müssen eine gewisse Rezeption erfahren haben, ehe sie einen eigenen Eintrag bekommen.

Bei der Google-Suche tauchen Ergebnisse aus der Enzyklopädie immer weit vorne auf – Wikipedia ist ein erster Anlaufpunkt dafür, sich für bestimmte Themen, Theorien oder Personen einen Überblick zu verschaffen. Deshalb ist es wichtig, präsent zu sein und den aktuellen Stand der Dinge abzubilden. Für Wissenschaftler:innen ist es wichtig, dass ihre neuen Veröffentlichungen – unter Wahrung der Relevanzkriterien – zügig in die entsprechenden Artikel integriert werden, um auffindbar zu sein. Ausserdem ermöglicht Wikipedia über eine digitale Bibliotheksplattform den Zugang zu internationalen Archiven, Verlagen und Zeitschriften – die Seite ist also auch eine immense Quelle für linke Wissensarbeiter:innen.

Wo bleiben die linken Gruppen?

Trotzdem gibt es keine feste linke Autor:innengruppe in Wikipedia. Das «Portal Marxismus» stammt noch aus den Frühzeiten und ist weitgehend verwaist. Wie Kontroversen ausgehen, ist daher mehr oder weniger dem Zufall überlassen.

Natürlich ist es zeit- und kraftraubend, sich in Themen einzuarbeiten, um diese dann in Wikipedia einzubringen. Trotzdem wäre eine solidarische, linke Organisation wichtig. Warum also nicht einen neuen Versuch starten, um die Kräfte zu bündeln und die Arbeit aufzuteilen – und so linkes Wissen verfügbar machen und auch erhalten?

Sebastian Klauke ist Politikwissenschaftler und Soziologe und lebt in Kiel.