Energiepolitik: «Das sind keine Peanuts!»

Nr. 5 –

Im Juni befindet die Stimmbevölkerung über den sogenannten Mantelerlass. Er soll den Ausbau von Wasser-, Wind- und Solarkraftwerken fördern. Die Grünen befürworten ihn. An der Delegiertenversammlung kam es trotzdem zur Kontroverse.

Naturlandschaft im Val Curciusa bei San Bernardino GR
Immer noch nicht geschützt: Im Val Curciusa bei San Bernardino GR sollte in den achtziger Jahren ein Pumpspeicherwerk entstehen. Es gibt bis heute Pläne, hier zu bauen. Foto: Raphael Weber, Alamy

«Warum sagt ihr ‹Stromgesetz›?», fragt ein Delegierter aus der Romandie. «Es gibt kein Stromgesetz.» Am Samstag, 27. Januar, einem strahlenden Tag, halten die Grünen in einem Luzerner Kirchgemeindehaus ihre Delegiertenversammlung ab. Gerade hat der Zürcher Nationalrat Bastien Girod dafür plädiert, der energiepolitischen Vorlage zuzustimmen, die dieses Jahr an die Urne kommt. Sie heisst «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» – aber das kann man ja nicht auf ein Abstimmungsplakat schreiben. Und «Mantelerlass», die geläufige Kurzform, verstehen nur Leute, die sich bereits mit der Materie beschäftigt haben. «Stromgesetz» sei eine Vereinfachung, räumt Girod ein. Vielleicht finde man noch ein besseres Wort.

«Die zwei grossen globalen Risiken – der Rückgang der Biodiversität und der Klimawandel – sind eng miteinander verknüpft und verstärken sich gegenseitig», schreibt das Bundesamt für Umwelt in einem aktuellen Biodiversitätsbericht. Fachleute sind sich einig, dass die beiden Notstände gemeinsam angegangen werden sollten. Klingt gut – in der Praxis stellen sich jedoch knifflige Fragen: Wo ist Technik Teil der Lösung? Wo rechtfertigt der gewonnene klimafreundliche Strom die Zerstörung von Lebensräumen? Wo nicht? Diese Fragen stellen sich überall auf der Welt: bei indigenen Sami, die sich in Norwegen gegen Windparks wehren, wie bei portugiesischen Bäuerinnen, die dem Lithiumabbau für E-Auto-Batterien nicht weichen wollen. Und in Schweizer Bergtälern.

Das Nein aus Graubünden

Das Parlament hat dem Mantelerlass im Herbst 2023 deutlich zugestimmt. Darauf ergriffen Naturschutzkreise um die Fondation Franz Weber und die Windkraftgegner:innen von Freie Landschaft Schweiz das Referendum. Als die Frist knapp wurde, sammelten auch die AKW-Fans des Carnot-Cournot-Netzwerks Unterschriften. Mitte Januar kam das Referendum zustande.

Bei den Grünen scheint der Fall klar: Die Fraktion hat den Mantelerlass im Herbst ohne Gegenstimme befürwortet, wie die SP auch. Doch nun beantragen die Grünen Graubünden ein Nein – oder zumindest Stimmfreigabe. Darum braucht es nun doch eine Debatte an der Delegiertenversammlung.

Es sei ihm eine Freude, diese Vorlage zu präsentieren, sagt Bastien Girod. Er erläutert die Ziele des Mantelerlasses: den AKW-Strom zu ersetzen, das Energiesystem zu dekarbonisieren und zu dezentralisieren. Das im Mantelerlass verankerte Ziel, wie viel Strom die Schweiz bis 2045 aus erneuerbaren Quellen produzieren muss, sei auch dank der Grünen stark erhöht worden.

Girod erklärt die Massnahmen, sagt unter anderem: «Es wird sichergestellt, dass jemand, der eine Solaranlage aufs Dach stellt, anständig vergütet wird.» Er betont die Bedeutung der Wasserkraft für die Energieversorgung: «Sie ist wie eine grosse Batterie – und es ist eine umweltfreundliche Batterie.» Er zählt auf, welche Verschlechterungen die Grünen mit verhindert hätten: Die Restwasservorschriften werden nicht sistiert, Kraftwerke in Biotopen von nationaler Bedeutung sind weiterhin verboten, das AKW-Neubauverbot wird nicht aufgeweicht, die vollständige Strommarktöffnung kommt nicht. «Es wird so getan, als wäre der Mantelerlass ein Blankoscheck, um überall Wind-, Wasser- und Solarkraftwerke zu bauen, aber das stimmt nicht.» Einzelfallbewertungen, Güterabwägungen und Einsprachen seien immer noch möglich. Der Saal applaudiert.

Aus dem Vorstand der Grünen Graubünden sind Maya Crameri und Kaspar Schuler nach Luzern gekommen. Zuerst fragt Crameri nach: warum das Parlament neu entstehende Auen und Gletschervorfelder im Hochgebirge explizit vom Schutz ausgenommen habe. Bei Auen denke man an Flusslandschaften im Tal, meint Girod. «Wenn sich die Gletscher zurückziehen, ist das technisch gesehen auch eine Aue, aber es ist eine andere Situation.»

«Flächendeckende Deregulierung»

Dann setzt Kaspar Schuler zu seinem Plädoyer an. In den achtziger Jahren war er Alphirt im Bündner Val Madris und wehrte sich gegen das dort geplante Wasserkraftwerk, später leitete er Greenpeace Schweiz. Heute ist er Geschäftsführer der Alpenschutzorganisation Cipra International (siehe WOZ Nr. 22/23). Von den AKW-Befürworter:innen, die den Mantelerlass ablehnen, distanziert er sich gleich zu Beginn: Er habe 2016 die Kampagne für die Atomausstiegsinitiative mitgeleitet.

Auch die Bündner Grünen seien für die Energiewende, sagt Schuler. Aber der Teufel liege in der Summe der Ausnahmeregelungen. «Gletschervorfelder und alpine Auen sind keine Quantité négligeable! Diese Flächen sind ganz zentral für den Erhalt der Biodiversität.» Sie seien Refugien für hochalpine Pflanzen, die ohnehin schon unter Druck stünden.

Schuler kritisiert einen zentralen Punkt des Mantelerlasses: Kraftwerke in Biotopen von nationaler Bedeutung bleiben zwar verboten – aber oberhalb einer Aue von nationaler Bedeutung darf gebaut werden, wenn nur die Restwasserstrecke im Biotop liegt. «Damit werden Fliessgewässerbiotope im Kern tangiert.» Allein in Graubünden gebe es 58 solche national geschützten Biotope, denen nun die Austrocknung drohe. «Das sind keine Peanuts! Faktisch ist das eine flächendeckende Deregulierung.» Im neuen Bündner Richtplan seien «seitenweise zusätzliche Gewässernutzungen aufgedröselt bis zum letzten Bach»: «Da kommt eine Walze auf uns zu, die müssen wir ernst nehmen.»

Ein weiterer Ausbau der Wasserkraft verletze auch internationale Abmachungen der Alpenländer, sagt Schuler: «Vom Alpenwasser hängen 170 Millionen Europäer:innen ab.» Und er tangiere die Biodiversitätskonvention, zu der sich die Schweiz zuletzt 2022 bekannt habe: «Wir haben unterschrieben, dass auf dreissig Prozent der Fläche die Biodiversität Vorrang haben soll. Das werden wir nicht durchziehen können.» Der Applaus fällt verhalten aus.

Nun melden sich Delegierte zu Wort. Ein Genfer Anti-AKW-Aktivist plädiert für ein Ja: «Wir müssen aufhören, Milliarden Franken für Fossile ins Ausland zu schicken.» Die ehemalige Parteipräsidentin Regula Rytz sagt, sie verstehe Schulers Argumente. Es gebe Zielkonflikte: «Welches ist in einer schwierigen Situation eine progressive Politik?» Für sie ist klar: «Wir müssen Ja sagen zu konkreten Lösungen.» Sonst heisse es, die Grünen seien überall dagegen.

Ein Tessiner Delegierter befürwortet den Mantelerlass, weil dieser lokale Elektrizitätsgemeinschaften vorsieht. «Damit können wir in der Gemeinde einen Wasserstoffspeicher installieren, um die Energie der Solaranlagen zu speichern.» Eine junge Waadtländerin sagt: «Wenn wir jetzt Nein sagen, verschieben wir das Problem auf später.» Ein Aargauer wirft ein, Solarpanels könnten sogar positiv für die Biodiversität sein. «Ein Nein wirft uns zehn Jahre zurück», befürchtet ein Delegierter aus dem Baselbiet.

Parallele zum CO2-Gesetz?

Auch Brigitte Wolf von den Walliser Grünen äussert sich – von jener Kantonalpartei, die das Referendum gegen die Umsetzung des «Solarexpress» im Wallis ergriffen und gewonnen hat (siehe WOZ Nr. 19/23). Die Entscheidung sei sehr schwierig gewesen, doch die Walliser Grünen hätten sich zu einem Ja zum Mantelerlass durchgerungen. Die Bündnerin Maya Crameri entgegnet: «Wir haben auch gerungen – und uns für ein Nein entschieden, für den Schutz der Alpen.» Man könne den Schutz der Biodiversität nicht auf später verschieben. «Was gebaut ist, kann nicht rückgängig gemacht werden.»

Ein eindringliches Votum für ein Ja kommt vom Thurgauer Kurt Egger, der in der letzten Legislatur noch im Nationalrat sass. «Wenn die Vorlage abstürzt, bauen wir fossile Kraftwerke, und die AKW-Diskussion explodiert.» Zudem drohten noch mehr Angriffe auf Umweltgesetze und das Verbandsbeschwerderecht. Girod zieht die Parallele zur linken Minderheit, die vor drei Jahren das rechte Referendum gegen das CO₂-Gesetz unterstützte: «Manche dachten auch, bei einem Nein zum Gesetz komme die Wende – aber wegen dieses Neins habe wir heute einen riesigen Rückstand beim Klimaschutz.»

Am Ende ist das Resultat deutlich: Nur 5 Delegierte unterstützen den Bündner Antrag auf ein Nein zum Mantelerlass, 13 jenen auf Stimmfreigabe. In der ersten Runde sprechen sich 114, in der zweiten 109 Delegierte für ein Ja aus. Die nationale Abstimmung findet am 9. Juni statt.