US-Politik: Bidens Sinkflug

Nr. 44 –

Ein Jahr vor den Wahlen sind die Republikaner:innen auf Selbstzerstörungskurs, während die Führung der Demokratischen Partei mit ihrer proisraelischen Haltung einen gewichtigen Teil der eigenen Basis verprellt.

Manche Buchtitel bleiben im Gedächtnis haften. «Democracy May Not Exist, but We’ll Miss It When It’s Gone» ist so ein Fall. Übersetzt: Demokratie mag nicht existieren, aber wir werden sie vermissen, wenn sie weg ist. In den USA wirkt diese Warnung seit einigen Jahren besonders dringlich.

Die Essayistin, Filmemacherin und Aktivistin Astra Taylor setzt sich in ihrem entsprechenden Werk von 2019 mit den Paradoxien und unerfüllten Versprechen der «Herrschaft des Volkes» auseinander – ganz generell, aber vor allem in den USA. Obwohl so vieles in diesem Land kaputt beziehungsweise nie heil gewesen sei, lohne es sich, für demokratische Praktiken zu kämpfen, argumentiert Taylor. Denn die Alternativen dazu sind nicht nur düster, sondern auch präsent.

Vertrauen in Demokratie schwindet

Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen am 5. November 2024 ist die US-amerikanische Politik in einem jämmerlichen Zustand. Präsident Joe Biden von den Demokrat:innen war in seiner Amtszeit nie so unbeliebt wie aktuell. Sein durchschnittlicher Beliebtheitswert von 44 Prozent ist auch im historischen Vergleich mit früheren Präsidenten miserabel. Die Republikanische Partei wiederum ist von einer selbstzerstörerischen Wut getrieben. Das zeigte sich etwa in den letzten Wochen deutlich im Hickhack um den Vorsitz des Repräsentantenhauses, aus dem der rechtsradikale, christlich-fundamentalistische und verschwörungsbesessene Abgeordnete Mike Johnson aus Louisiana als Sieger hervorging. Während der neunköpfige Supreme Court, das oberste US-Gericht, regelmässig gegen den Mehrheitswillen entscheidet, wird beim grössten Kabelsender Fox News allabendlich gegen Minderheiten gehetzt. Kein Wunder also, glaubt ein Grossteil der amerikanischen Bevölkerung laut Umfragen nicht mehr an die Demokratie.

Das spektakuläre Elend der US-Politik zeigt sich schon dadurch, dass die drohende Neuauflage des Wahlkampfs Biden versus Trump wohl nur dann nicht zustande kommt, wenn der eine Kandidat, der vierfach angeklagte Trump, im Gefängnis landet oder der andere Kandidat, der achtzigjährige Biden, wegen Altersschwäche ausfällt. 77 Prozent der US-Amerikaner:innen sagten zuletzt, Biden sei zu alt, um erneut anzutreten. Dieser zeigt sich von solchen Ergebnissen jedoch unberührt. Wer also aus progressiver Sicht auf einen Wandel hofft, hängt wieder einmal in der Schleife des geringeren Übels fest – und sieht sich mit einer realen Aussicht auf eine erneute Präsidentschaft Trumps konfrontiert.

Dennoch stechen auf keiner der beiden Seiten Alternativen hervor. Bei den Republikaner:innen scheint der kurze Hype um Ron DeSantis, den ultrarechten Gouverneur von Florida, vorbei. Die ehemalige Uno-Botschafterin Nikki Haley hinkt in Umfragen weit hinterher. Und Trumps einstiger Vizepräsident Mike Pence hat inzwischen aufgegeben. Bei den Demokrat:innen wiederum ist die Esoterikerin Marianne Williamson abgeschlagen, ebenso die parteilosen Bewerber Cornel West und Robert F. Kennedy Jr. Keine dieser Figuren hat eine wirkliche Bewegung hinter sich, wie sie beispielsweise Bernie Sanders 2016 und 2020 hatte. In diesem Wahlzyklus steht Sanders jedoch an Bidens Seite, weil es gelte, eine Wiederwahl Trumps unter allen Umständen zu verhindern.

Afghanistan-Einsatz hallt nach

Angesichts der Vielzahl von Krisen ist schwer absehbar, wie sich der Wahlkampf inhaltlich entwickeln wird. Die wirtschaftliche Situation und die hohen Lebenskosten werden weiterhin als grösste Sorgen genannt. Bei Themen wie Kriminalität und Migration kann man sich darauf verlassen, dass sie insbesondere von rechts instrumentalisiert werden. Bei den Zwischenwahlen 2022 spielte die Entscheidung des Supreme Court gegen das Abtreibungsrecht eine wesentliche Rolle – und zwar zugunsten der Demokratischen Partei. Für 2024 sieht es so aus, als würde der Krieg im Nahen Osten ein entscheidender Faktor werden. Auf diesem Feld allerdings scheint Biden Wähler:innen zu verlieren. Könnte das ihn sogar die Präsidentschaft kosten?

Als der US-Präsident in einem Fernsehinterview Mitte Oktober gefragt wurde, ob die Regierung mit den Kriegen im Nahen Osten und in der Ukraine überfordert sei, reagierte er geradezu eingeschnappt. «Wir sind die Vereinigten Staaten von Amerika, Herrgott noch mal. Die mächtigste Nation, die es je in der Welt gab.» Ein paar Wochen später mag das mit der hegemonialen Stellung zwar weiterhin stimmen. Bidens aussenpolitische Führung wird allerdings zunehmend infrage gestellt. Zum einen sehen immer mehr Bürger:innen die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch. Hier drückt sich auch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den geopolitischen Fähigkeiten der US-Regierung aus. Der desaströse Einsatz in Afghanistan hallt immer noch nach.

Zum anderen ist in den vergangenen Wochen die Wut über Bidens Positionierung im Krieg zwischen Israel und der Hamas gewachsen. Insbesondere muslimische, arabische und progressive US-Amerikaner:innen prangern die von der US-Regierung unterstützte Bombardierung Gazas an. Es sind Teile der Bevölkerung, auf die Biden angewiesen ist. Das Weisse Haus sollte jedenfalls alarmiert sein angesichts dessen, dass seine Zustimmungsrate unter demokratischen Wähler:innen zwischen Ende September und Ende Oktober um enorme elf Prozentpunkte gesunken ist.

Grosse propalästinensische Demos

Biden hatte Israel nach den Massakern der Hamas am 7. Oktober, bei denen über 1400  Menschen ermordet wurden, «felsenfeste und standhafte Unterstützung» zugesichert. Als Israels Regierung daraufhin eine «noch nie da gewesene» militärische Reaktion ankündigte, warnten zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, aktivistische Gruppen und linke Politiker:innen, dass die palästinensische Bevölkerung des belagerten Gazastreifens nicht kollektiv bestraft werden dürfe. Genau das passiert nach Einschätzung der Uno und vieler anderer Institutionen nun jedoch auf fatale Weise. Die humanitäre Katastrophe spitzt sich mit jedem Tag zu (vgl. «Wenn das jetzt kein Weckruf ist …»).

In zahlreichen US-Grossstädten finden derzeit grosse Demonstrationen für eine Waffenruhe statt. Hinter den Protesten stehen diverse Gruppen, einige davon jüdisch, wie zum Beispiel Jewish Voice for Peace und If Not Now. Sie spüren nach eigenen Angaben eine besondere Verantwortung, den Angriff auf Gaza «in ihrem Namen» zu stoppen.

In New York legten Demonstrierende am vergangenen Freitag die Bahnstation Grand Central lahm. «Let Gaza live», hallte es durch die Empfangshalle, ehe die Polizei mit einer Massenfestnahme begann. Am Samstag zogen Tausende Menschen mit «Free Palestine»-Sprechchören von Brooklyn über die Brücke nach Manhattan. Spricht man mit Teilnehmenden dieser Proteste, wird deutlich, wie tief die Wut sitzt. Viele werfen der rechten Regierung Israels einen Völkermord in Gaza vor und halten die USA, die allein letztes Jahr 3,3 Milliarden Dollar Auslandshilfe an Israel leisteten, für mitverantwortlich. Biden wird übel genommen, über Wochen hinweg nichts für eine Deeskalation getan zu haben. Erst seit wenigen Tagen scheint es ein Umdenken im Weissen Haus zu geben. Laut «Washington Post» setzt sich die US-Regierung nun hinter den Kulissen für eine «humanitäre Pause» ein.

Die Einstellungen zu diesem Konflikt haben sich innerhalb der USA grundsätzlich verändert. Das Meinungsforschungsinstitut Gallup fand im Frühjahr heraus, dass die demokratischen Wähler:innen zum ersten Mal seit Erhebungsbeginn 2001 mehrheitlich auf der Seite der Palästinenser:innen und nicht auf jener der Israelis stehen. Was genau das heisst, bleibt unklar. Offensichtlich ist jedoch, dass die Kluft zwischen demokratischer Führung und demokratischer Basis in den vergangenen Wochen weiter gewachsen ist.

«Joe Biden hat im Alleingang fast alle arabisch-amerikanischen und muslimischen Wähler:innen in Michigan vor den Kopf gestossen», sagte der demokratische Regionalpolitiker Alabas Farhat dem Sender NBC. Michigan war bei den vergangenen Wahlen ein entscheidender Bundesstaat. Die benannten Communitys könnten hier 2024 also den Unterschied ausmachen. Im selben Fernsehbeitrag warnte ein lokaler Funktionär der Demokrat:innen deshalb: «Ich möchte meinem Präsidenten raten, seine Strategie, seine Politik, seine Aussenpolitik zu überdenken.»

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Kommentare

Kommentar von kusto

Do., 02.11.2023 - 14:29

Alle vier Jahre dürfen die US-BürgerInnen zur "Wahl" ein Kreuz für einen Republikaner oder eine Demoktratin machen. Eine andere Kandidatur hat eh keine Chance und das nennt sich dann "Demokratie". Vor allem müssen die Bewerber und Bewerberinnen sackweise Dollars sammeln um überhaupt als Kandidat oder Kandidatin eine Chance zu haben. Für meine Begriffe ist das ganze eher ein unwürdiges Spektakel wo sich die Kandidaten mit Dreck bewerfen. Wer am besten wirft, hat gewonnen.