Missbrauch in der katholischen Kirche: «Leider gab es sehr viele Hinweise auf Übergriffe»

Nr. 44 –

Die Historikerin Simone Rees untersucht die kolonialen Verflechtungen einer Schweizer Missionsgesellschaft im 20. Jahrhundert – und ist dabei auf ein bisher unerforschtes Kapitel in der Geschichte des Missbrauchs in der katholischen Kirche gestossen.

Portraitfoto von Simone Rees
«Der Umgang mit Missionaren, die ‹Verfehlungen› begangen hatten, entsprach den von der katholischen Kirche bekannten ­Mustern»: Simone Rees.

WOZ: Simone Rees, Mitte September publizierten Historiker:innen der Universität Zürich eine Pilotstudie zu Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche. Dafür erhielten sie erstmals umfassenden Zugang zu den Archiven der Kirche und konnten sich einen Überblick über die Dimensionen in der Schweiz verschaffen. Waren Sie von den Erkenntnissen überrascht?

Simone Rees: Es lagen bereits ähnliche Forschungsergebnisse aus anderen Ländern vor, weshalb zu erwarten war, dass für die Schweiz vergleichbare Strukturen und Muster nachgezeichnet werden können. Trotzdem: Die dokumentierten Fallbeispiele schwarz auf weiss zu sehen, hatte auch für mich ein schockierendes Moment, obwohl ich mich in der Forschung damit beschäftige. Dasselbe gilt für das Ausmass, in dem die Missbrauchsfälle vertuscht wurden.

Im Bericht wird aufgezeigt, wie übergriffige Kleriker systematisch in andere Gemeinden versetzt wurden, um ihre Taten zu verbergen, mitunter auch ins Ausland – und wohl auch in Missionen, wie die Historiker:innen mutmassen. Sie selbst forschen zur schweizweit grössten katholischen Missionsgesellschaft, der Missionsgesellschaft Bethlehem (SMB), die unter anderem im Gebiet des heutigen Simbabwe missionierte. Können Sie diese Annahme bestätigen?

Studien belegen, dass die Versetzung von «verfehlten» Priestern in Missionen eine gängige Strategie war. Im Fall der SMB konnte ich das so nicht nachweisen. Das mag einerseits daran liegen, dass ich nur zu einem gewissen Teil des Archivs Zugang hatte. Andererseits wird in diesen Quellen deutlich, dass rassifizierte und sexualisierte Stereotype über Afrikaner:innen bei der Entsendung von Missionaren eine Rolle spielten. Afrikanische Menschen wurden in kolonialstereotyper Weise als «hypersexuell» imaginiert. Dementsprechend fürchtete sich die Missionsleitung in der Schweiz davor, dass Priester und Brüder, die Probleme «in sexto» hätten …

Schweizer Missionen

Im 19. Jahrhundert entstanden in der Schweiz zahlreiche katholische und evangelisch-reformierte Missionsvereine. Da das Land als neutral und kolonialgeschichtlich unbelastet galt, war es als Niederlassungsort für Missionen attraktiv und mutierte nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Missionszentrum. 1921 wurde der Grundstein für die Societas Missionaria de Bethlehem in Helvetia (SMB), kurz Missionsgesellschaft Bethlehem, gelegt, die auf aussereuropäische Missionen fokussierte. 1938 wurden die ersten Priester und Brüder ins koloniale Simbabwe, das damalige Südrhodesien, entsandt. Um 1960 wirkten dort über hundert Missionare der SMB in den unter ihrer Leitung erbauten Kirchen, Schulen, Spitälern und Heimen.

 

In sexto?

Ja, «in sexto», also «in Bezug auf das sechste Gebot». Solche verschleiernden Begriffe über die Sexualität von Klerikern wurden in der missionarischen Kommunikation verwendet. Es gab also einen Diskurs darüber, dass Priester und Brüder, die «mehr als normale» Probleme in diesem Bereich hätten, auf gar keinen Fall nach Afrika geschickt werden sollen. Denn dort, so die Logik der Missionsleitungen, seien die Versuchung sowie der potenzielle Schaden eines Skandals für die Kirche noch viel grösser. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich im südlichen Afrika die dekolonialen Prozesse zusehends intensivierten, befand sich das Ansehen der Missionen auf dem Prüfstand. Die lokale Bevölkerung beobachtete genau, ob die Missionare auch das praktizierten, was sie predigten.

Kam es zu Missbräuchen in der Mission selbst?

Leider habe ich sehr viele Hinweise auf sexuelle Übergriffe entdeckt. Das Umfeld der katholischen Kirche der Schweiz endet nicht an deren nationalstaatlichen Grenzen, sondern ist auch im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in seinen globalen Dimensionen zu fassen. Priester und Brüder kamen in aussereuropäischen Missionen in Kontexte, wo sie mit einer noch grösseren Machtfülle ausgestattet waren. Dies erleichterte einerseits den Zugang zu vulnerablen Personen – und andererseits die Vertuschung von Fällen. Der Umgang mit Missionaren, die sogenannte Verfehlungen begangen hatten, entsprach den von der katholischen Kirche bekannten Mustern.

Was waren das für Muster?

Das oberste Gebot war immer der Schutz ihres Rufs. Skandale mussten um jeden Preis und auf Kosten der Betroffenen verhindert werden. Die von mir untersuchten Briefe belegen darüber hinaus, dass zur Vertuschung der Fälle auch innerhalb der Mission Priester und Brüder in andere Gemeinden versetzt wurden. In zwei Fällen wurden übergriffige Missionare auch in die Schweiz zurückgeschickt.

Und was passierte mit den Opfern?

Die Perspektiven und das Wohlbefinden der Betroffenen wurden in den Quellen, die ich untersucht habe, nicht berücksichtigt. Es gab zum Beispiel den Fall eines Missionars, der des sexuellen Missbrauchs eines «African girl» beschuldigt wurde …

African girl?

Ja, das war eine übliche Referenz in den Quellen. «Girl» lässt dabei oft nicht wirklich auf das Alter schliessen, und die Betroffenen werden auch nie namentlich erwähnt. Teilweise ist allerdings klar, dass es sich um Schülerinnen handelte. Im Fall der erwähnten Anschuldigung wurde die Betroffene einfach als Hysterikerin und Lügnerin dargestellt – womit das Thema erledigt war. In anderen Fällen, in denen Missionare die sexuellen «Verfehlungen» bestätigten, wurden sie oft durch die zuständigen Kirchenvertreter pathologisiert. Es wurde argumentiert, jener sei «nicht normal», und dieser habe «eine krankhafte Veranlagung». Auf diese Weise konnte ein systemisches Problem zu einem individuellen bagatellisiert werden.

Was sind das eigentlich für Quellen, mit denen Sie gearbeitet haben?

Ich war zwar auch in Simbabwe auf Quellensuche, die meisten Bestände sind aber im Archiv der SMB, das im Staatsarchiv in Luzern untergebracht ist. Es befindet sich nach wie vor im Erschliessungsprozess, weshalb mir nicht alles zugänglich war. Was ich unter anderem einsehen konnte, waren Personaldossiers, die Tausende von Briefen enthielten, von Missionaren an die Generalleitung in der Schweiz und umgekehrt, aber auch von Missionaren untereinander. Trotz der euphemisierenden, verdeckenden Sprache in den Briefen wird klar, dass sexueller Missbrauch ein omnipräsentes Thema war. Ausserdem war die Kontrolle über die Sexualität der afrikanischen Christ:innen ein zentrales Anliegen der Mission.

Dass ausgerechnet Sexualität in der Arbeit der Missionare eine so wichtige Rolle spielte, klingt im ersten Moment erstaunlich.

Tatsächlich massen Kirchenvertreter:innen Erfolg und Scheitern der Mission stark an der Durchsetzung der katholischen Sexualmoral unter den afrikanischen Christ:innen. Dazu wurde das intime Leben der Bevölkerung vor Ort genau überwacht und diszipliniert, wobei die SMB-Missionare dafür bis Ende der 1950er Jahre auch ausbeuterische Bestrafungssysteme einsetzten. Das bedeutet, dass zum Beispiel Christ:innen, die Verstösse gegen diese Sexualmoral beichteten, etwa das innereheliche Einsetzen von Verhütungstechniken wie Coitus interruptus, zur Busse bis zu vier Wochen unentgeltliche Arbeit auf der Missionsstation leisten mussten. Diese bestand vielfach im Formen von Ziegelsteinen für den Bau von Missionsgebäuden. Ohne dieses koloniale Mittel wären der Aufschwung und die riesige Expansion, die die SMB im kolonialen Simbabwe verzeichnen konnte, wohl nicht möglich gewesen.

Wurden die Missionare von der lokalen Bevölkerung als Teil des kolonialen Systems wahrgenommen?

Das Verhältnis von Mission und Kolonialismus ist sehr komplex. Viele Missionare und Laienhelferinnen waren in der spätkolonialen Phase offene Kritiker:innen der Kolonialregierung. In Simbabwe gingen ausserdem viele Akteur:innen der nationalen Befreiungsbewegung durch missionarische Bildungs­­­­­­­­­­institutionen, die sozialen Aufstieg ermöglichten.

Auch der frühere Freiheitskämpfer und spätere Diktator Robert Mugabe gehörte dazu, nicht wahr?

Genau, Mugabe besuchte jesuitische Bildungseinrichtungen und arbeitete später eine Zeit lang als Lehrer bei der SMB. In missionarischen Schulen kamen Afrikaner:innen einerseits mit Ideen von Freiheit und Gleichheit in Berührung. Andererseits bedienten sich Missionare aber auch ganz klar kolonialer Machtstrukturen und nutzten Privilegien aus. Dies führte dazu, dass sie sich in ihren Praktiken und im Auftreten oft nicht stark von Siedler:innen unterschieden. Man kann im Kontext der SMB auch ein Spannungsverhältnis zwischen dem tatsächlichen Wirken der Mission vor Ort und der Repräsentation in der Schweizer Öffentlichkeit feststellen.

Wie wurden die Missionsgesellschaften denn in der Schweiz wahrgenommen?

Missionen waren über lange Zeit die einzigen Organisationen, die hierzulande Bilder und Vorstellungen über aussereuropäische Gebiete und die dort lebenden Menschen vermittelten. In breit angelegten Spendenkampagnen wurden Missionare bis Mitte der 1960er Jahre zu regelrechten Helden stilisiert, die zu den als wild und unzivilisiert dargestellten Menschen gingen, um ihnen «das Licht des Glaubens» zu bringen. Vor dieser Folie verfestigten sich Schweizer Selbst- und Fremdbilder. Und im Gegensatz zu Universitäten oder Museen, die ebenfalls koloniales Wissen vermittelten, trugen Missionen koloniale Vorstellungswelten in jeden Haushalt und auch in ländliche Regionen hinein.

Meine christliche Grossmutter ermahnte mich jeweils, meinen Teller leer zu essen, weil die Kinder in Afrika nichts zu essen hätten. Hat das auch etwas mit den Missionen zu tun?

Absolut, auch wenn solche Stereotype sicher nicht allein auf Missionen zurückzuführen sind.

In der Schweiz herrscht aber immer noch die Überzeugung vor, das eigene Land habe keine koloniale Vergangenheit …

Wie die Debatten in den letzten Jahren gezeigt haben, können die kolonialen Verstrickungen der Schweiz im wirtschaftlichen Bereich nicht mehr wegdiskutiert werden. Allerdings findet sich oft das Argument, dass es sich dabei lediglich um einzelne Unternehmer, Söldner oder Auswanderer gehandelt habe. Gegen die Einsicht, dass die Schweizer Gesellschaft als Ganzes eine Vergangenheit hat, die in einer kolonialen Kultur situiert werden muss, gibt es noch sehr viel Widerstand. Denn sie stellt nicht nur das Geschichtsbild, sondern auch das Selbstverständnis einer kolonialen Unschuld und dementsprechend einer rassistischen Unbefangenheit infrage. Die Untersuchung von Missionen eröffnet somit für heutige Debatten wichtige Einblicke in die globalen Zusammenhänge der Schweizer Geschichte.

Simone Rees (33) forscht seit 2017 als Doktorandin im Nationalfonds-Projekt «Katholische Mission im Zeitalter von Kolonialismus und Dekolonisation» am Departement für Zeitgeschichte der Uni Fribourg.