Kielce International Theatre Festival: Die Wirklichkeit umschreiben

Nr. 41 –

In Polen erprobt das zeitgenössische Theater, wie viel politische Kritik auf der Bühne trotz der autoritären Entwicklung im Land noch möglich ist.

Bühnenfoto von Jakub Skrzywaneks Inszenierung «Spartacus»
Queere Selbstermächtigung: In Jakub Skrzywaneks Inszenierung «Spartacus» feierten bereits über vierzig Paare Hochzeit. Foto: Piotr Nykowski

Südostpolen, Kielce. Eine Stadt mit knapp 200 000 Einwohner:innen. Dass ausgerechnet hier in der Provinz mit dem Kielce International Theatre Festival ein politisch relevantes Theaterfestival stattfindet, ist kein Zufall. Kritisches Theater in Polen weicht seit geraumer Zeit auf kleinere Bühnen aus. Und das Festival in Kielce zeigt sich radikal.

«Spartacus. Love in the Time of the Plague» von Jakub Skrzywanek wird aufgeführt, der Regisseur ist eine der gegenwärtig politisch entschiedensten Theaterstimmen Polens. Der Abend ist düster und dreckig, Schlachthauszäune stehen auf der Bühne. Es geht um Suizide Heranwachsender, um die Jugendpsychiatrien des Landes und die dort ausgeübte Gewalt an jungen Menschen. Von den Insass:innen sind 77 Prozent queer. Sie sind es, die besonders unter den katholisch-konservativen Werten im Land leiden. Wie auch Polens Queers überhaupt: Deutlich mehr als die Hälfte von ihnen hat suizidale Gedanken.

Strahlendes Spektakel

Der Regisseur weiss, wogegen er kämpft. Polen wird, seitdem die national-konservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) die Regierung vor acht Jahren übernommen hat, immer mehr von einer illiberalen Politik bestimmt, der Rechtsstaat wankt. Die Kulturförderung basiert auf einem in Europa eigentlich nicht unüblichen Modell, bei welchem dem Kulturministerium sowie regionalen und lokalen Behörden das meiste Gewicht zufällt. Die Theater sind grösstenteils dezentral organisiert, die meisten unterstehen direkt den lokalen Regierungen der sechzehn Woidwodschaften und der Städte.

So entscheiden auch politische Strategien und Leitfäden über die Finanzierung. Und der Auftrag der PiS ist deutlich: Die Partei will traditionelle katholische Werte und die nationale Identität stärken. Skrzywanek selbst fing vor acht Jahren an, Theater zu machen, zeitgleich mit dem Regierungsbeginn der PiS. Er kennt es nicht anders, als mit seiner Kunst politisch Position beziehen zu müssen.

Im dritten Akt von «Spartacus» werden plötzlich zwei Männer aus dem Publikum auf die Bühne geholt. Man erkennt sie sofort: Da steht der linke Präsidentschaftskandidat aus dem Jahr 2020, Robert Biedroń, gemeinsam mit seinem Partner Krzysztof Śmiszek, auch er Politiker der Partei Nowa Lewica (Neue Linke). Es folgt eine spektakuläre Hochzeitszeremonie im Kreis des tanzenden Ensembles in strahlender Regenbogenfarbentracht. Die beiden sind die ersten offen schwulen Parlamentarier in der polnischen Geschichte. Das Theater wird an diesem Abend zum symbolischen Ort der Trauung und zum einzigen Ort im Land, an dem gleichgeschlechtliche Paare heiraten können. In Stettin fanden im Theater, das Regisseur Skrzywanek leitet, bereits vierzig Hochzeiten auf der Bühne statt. Und es gibt immer mehr Anfragen.

Die Inszenierung greift den politischen Katechismus der PiS frontal an: die katholischen Traditionen, die heteronormative Familie. «Wir haben herausgefunden, dass wir mit genau diesen Symbolen, Ritualen und Figuren spielen können», sagt der 31-jährige Regisseur. Es sei im Moment das radikalste ästhetische Werkzeug. Der Shitstorm in den Tagen nach der «Spartacus»-Aufführung in Kielce ist gross, der Intendant des Festivals, Michał Kotański, bekommt Mails, in denen gefordert wird, dem Festival die staatlichen Fördergelder zu entziehen. Immer wieder die Frage, ob er denn immer noch im Amt sei.

Ein paar Tage später dann ähnliche Radikalität in der Festivalinszenierung «But with the Dead of Ours» unter der Regie von Marcin Liber. Eine makabre Geschichte in Zombieästhetik, die sich an polnischen Narrativen von Geschichte und Identität abarbeitet. Der Autor der Romanvorlage, Jacek Dehnel, kandidiert momentan auf der Liste der Linkspartei für den Sejm, die grosse Parlamentskammer. Die Groteske nimmt den Klerus ins Visier, Politiker:innen, Medien. Denn auch der Journalismus im Land wird immer stärker kontrolliert. Der staatliche Mineralölkonzern Orlen kaufte 2020 fast alle Regionalmedien des Landes auf, die Berichterstattung fällt seitdem vermehrt zugunsten der regierenden Partei aus.

Ökonomische Zwänge

Die Politik schenkt dem Theater sehr viel Aufmerksamkeit. Nach der Premiere der Zombieinszenierung solle PiS-Chef Jarosław Kaczyński getobt haben, sagt Kotański, der neben dem Festival auch das Theater in Kielce leitet. Es habe Forderungen aus der PiS-Partei gegeben, dem Theater die Gelder zu streichen. Zeitungen machen Kotański nun Angebote, die Auseinandersetzung medial auszutragen und öffentlich zu machen. Das kann Konsequenzen haben. Wer Kultur machen will, kommt zwangsläufig mit der Politik in Berührung. Das Festival ist mehrheitlich mit nationalen Geldern finanziert, auch die Renovierung des historischen Theaters in Kielce für 34 Millionen Euro wird vor allem über das Kulturministerium bezahlt. Es könnten die letzten Gelder für derartige Investitionen sein, sagt Kotański.

Wie weit darf, will und muss man mit dem politischen Gegner kollaborieren, um mit Kulturarbeit etwas erreichen zu können? Gerade die vom Staat finanzierte Renovierung des Theaters in Kielce ist wichtig für die Region. Der erweiterte Bau in der Altstadt soll den Menschen Theater zugänglicher machen. Er wird das Kulturangebot aufwerten, einen kritischen Diskurs und einen sozialen Dialog möglich machen. Gerade in den ländlichen Regionen des Landes wie hier im Südosten ist das wichtig.

Immer wieder geht der Blick nach Ungarn und Russland und zu den dortigen Kolleg:innen. Die Repression in der Kulturpolitik liegt genau darin, ökonomische Zwänge zu schaffen und damit die rechtlich verankerte Freiheit der Kunst zu unterwandern: eine Methode der PiS, aber auch anderer rechtspopulistischer Parteien in Europa. Und weil sie unter dem Deckmantel demokratischer Politik läuft, ist diese Strategie so schwer greifbar – und damit umso gefährlicher. «Der nächste Schritt», sagt Skrzywanek mit Blick auf die Parlamentswahlen vom Sonntag, «wird der gleiche wie in Ungarn sein. Wenn die PiS die Wahlen jetzt gewinnt, nehmen sie uns alle Gelder weg.»

Die Kultur und die oppositionelle Politik suchen nach Gegenstrategien. Dabei sind Kotański und Skrzywanek aber zurückhaltend, wenn es um die zentralistische Oppositionspartei Platforma Obywatelska (Bürgerplattform) geht. Auch sie stand in den Jahren vor der PiS-Regierung nicht für die tatsächlichen Interessen der Menschen ein, folgte einem wirtschaftsliberalen Kurs. Auch hier ging es vor allem um Macht. Immer wieder also die Frage: Wie kann Kultur in Gesellschaft eingreifen, ohne selber diesen Logiken zu verfallen? Welche Angebote und Praktiken braucht es?

Auf der Festivalbühne umarmt sich das frisch verheiratete Paar, ein Kuss, Jubel. Nach der Vorstellung werden die Eheringe vor Kameras gehalten, Glückwünsche ausgesprochen, es gibt Umarmungen. Die Wirklichkeit, sie wird hier neu inszeniert.