Erwachet: Grillen für immer

Nr. 40 –

Michelle Steinbeck wird von einer Wespe gestochen

Der heurige Sommer ist wie der Gast, der noch eine neue Flasche aufmacht, wenn die Gastgeberin längst aufgeräumt und geräuschvoll die Zähne geputzt hat, um sich schliesslich im Pyjama wieder zu ihm zu setzen, ergeben zuzuschauen, wie es draussen hell wird, amüsiert und auch inspiriert vom Hedonismus des Gasts, der sich nicht um das Morgen und seine To-dos zu scheren scheint, der im Gegenteil nicht aufhört zu trinken, zu reden, neue Platten aufzulegen, völlig selbstvergessen oder willentlich ignorierend, was von ihm erwartet wird, dass er sich nämlich verzieht; was er nicht tut, selbst dann nicht, als die ersten Spatzen anfangen zu tschilpen, noch schlaftrunkene Wespen gegen die Scheiben klopfen –

So sitze ich im Oktober bei römischem Klima auf dem Balkon, die feuchten Tücher vom gefühlt hundertsten «letzten» Rheinschwumm wehen sachte im Wind, vor mir liegen Weintrauben und gelbe Birnen, da kommt auch schon die obligate Wespe angekreiselt. Ich versteife mich, denke an den Freund, der als Kind so verinnerlicht hatte, sich bei einem Wespenangriff nicht zu rühren, dass er stoisch über sich ergehen liess, wie ein solches Viech ihm in aller Ruhe ein Stück aus der Lippe frass und damit wegflog. Ungerührt, so wie jene, die gerade noch versteckt in den Trauben sass, nach denen ich gegriffen – ah, brennender Schmerz. Erst schwillt der Finger, dann die ganze Hand aufs Interessanteste an.

Derart eingeschränkt, zum grillenhaften Müssiggang gezwungen, steige ich den idyllischen Hügel hinauf, über einen flachgefahrenen Frosch am Kuhhang entlang, vorbei am Bauernhof, der nach Erdbeeren und Maiskolben nun Kürbisse anbietet, unter Vogelschwärmen, die am Himmel Formationen bilden – die Schwalben sind weg, die Stare sind da! Ich schnaufe: Seltsam, unter halb nackten Bäumen zu schwitzen. Ein Putzwagen überholt mich prustend, ungläubig laufe ich ihm nach, der nimmt doch tatsächlich die Landstrasse feucht auf! Beim alten Sonnenbad lasse ich mich auf die Wiese fallen, wo zu dieser Zeit niemand ist ausser zwei Windelkinder, die ächzen und aufs Gras klopfen, während ihre Mütter käferhaft auf dem Rücken liegen. Hier bin ich also, mit einer pochenden Wespenstichhand und meiner Zukunft.

Das Licht ist weicher geworden, es hat etwas Versöhnliches. Wie meine Lektüre: Der funktionstüchtige Daumen scrollt durch ein «Tagi»-Interview mit Wespenexpertin Seirian Sumner: Wespen sollen also nicht nur hinterhältige Wichser sein, sondern auch wichtige Bestäuber. Sie können sehr gut riechen, besser als Hunde, man könnte sie zur Drogenfahndung trainieren, sagt Frau Sumner. Sie können sich sogar Gesichter von Menschen merken – darum schwirren sie uns so gern vor dem Gesicht herum: Sie prägen sich deine Nase ein.

Fast noch schöner als das Interview sind die Kommentare. Wo sonst gespuckt, gehatet und gebullshittet wird, gestehen gestandene Männer, wie sie ihren Wespen Sträusse aus mit Schinken umwickelten Grissini schenken oder wie sie mit dem Wespennest auf der Terrasse friedlich Besitzverhältnisse klären. Die Vorstellung, wie «Tagi»-Trolls, die sich sonst ständig grausam aufregen müssen über «Woke», mit Wespen vernünftig zu argumentieren versuchen, erfüllt mich mit Versöhnlichkeit. Wer solche Poesie schreibt, kann nicht ganz verloren sein: «ich sprach zu den viechern und sagte: okay».

Michelle Steinbeck ist Autorin.