Theaterspektakel: Nicht da, aber auch nicht weg

Nr. 36 –

Was haben ein verschollenes Flugzeug und ein Vater gemeinsam? Helgard Haug erzählt im Buch und Theaterstück «All Right. Good Night» eine fulminante Geschichte über das Verschwinden.

Bühnenfoto des Theaterstück «All Right. Good Night» am Zürcher Theaterspektakel
Bald schwebt ein Wrackteil von oben heran: Die Bühnenversion von «All Right. Good Night» am Zürcher Theaterspektakel. Foto: Merlin Nadj-Torma

Nein, der Vater ist nicht in ein Flugzeug gestiegen. Auch wenn das Buch «All Right. Good Night» von Helgard Haug mit dieser Behauptung beginnt. Doch schnell wird klar: Ihr Vater sitzt nicht in diesem Flugzeug, das 2014 auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking verschwindet und mit ihm 239 Menschen aus vierzehn Ländern. Das Verschwinden des Vaters beginnt zwar im selben Jahr. Doch es ist unspektakulärer, leiser und findet nicht unter den Augen der Öffentlichkeit statt. Es dauert acht Jahre – die Autorin hält sie in acht Kapiteln fest. Darin zeichnet sie behutsam, feinfühlig und immer wieder überraschend lustig nach, wie der Vater der Welt nach und nach abhandenkommt. Zuerst sind es nur kleine Anzeichen, die auf sein Verschwinden hindeuten, wie die vier Geburtstagskarten für den Enkel im Briefkasten, alle mit dem beinahe identischen Text. Doch die Anzeichen werden eindeutiger, und schliesslich lautet die Diagnose: Demenz.

Diese persönliche Geschichte verknüpft Haug mit dem Absturz des Fluges MH370 der Malaysia Airlines, mit dieser Maschine, von der bis heute ungeklärt ist, was genau mit ihr passiert ist. Haug zeichnet die Ereignisse dokumentarisch nach, sie hat akribisch recherchiert und auch mit Angehörigen von Vermissten gesprochen. Knapp vierzig Minuten nach dem Start verschwindet das Radarsignal des Flugzeugs. «Kuala Lumpur versucht, das Flugzeug zu erreichen. Wo bist du? Melde dich.» Wo bin ich, fragt derweil der Vater. Und wo sind sie, wollen die Angehörigen der Vermissten seit Jahren wissen. Der Vater, «geistig abwesend, aber körperlich da», und die Vermissten, «körperlich nicht mehr anwesend, aber nicht erwiesenermassen tot». «Verschwunden, könnte man sagen, im Vielleicht-Raum», schreibt die Autorin und nennt diesen auch eine «Zweideutigkeit».

Theater ohne Protagonist:innen

Es ist ein gewagtes Unterfangen, auf das sich Haug in «All Right. Good Night» einlässt, indem sie diese beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Ereignisse miteinander verbindet. Doch wie unglaublich gut der Regisseurin, Autorin und Mitbegründerin der renommierten Theatergruppe Rimini Protokoll diese Verknüpfung gelingt, hat sie bereits im gleichnamigen Theaterstück gezeigt. Dieses wurde 2022 in der Kritiker:innenumfrage von «Theater heute» zur «Inszenierung des Jahres» gewählt und war dieser Tage am Theaterspektakel in Zürich zu sehen. Das soeben als Roman veröffentlichte Buch ist eine überarbeitete und textlich ergänzte Version des Theaterstücks.

Auch in der Theateraufführung muss vor allem gelesen werden: Vor der Bühne ist eine Gaze gespannt, auf die während über zweieinhalb Stunden viel Text projiziert wird. Die Worte schweben in unterschiedlicher Grösse praktisch über den Ereignissen, die sich auf der Bühne abspielen. Es sind auf den ersten Blick nicht viele. Haug verzichtet auf Protagonist:innen, der Text wird von niemandem dargestellt. Im Zentrum stehen fünf Musiker:innen des Zafraan Ensemble (sowie zwei Schauspielende), die den projizierten Text – der teilweise auch aus dem Off oder von einer Schauspielerin auf der Bühne gelesen wird – musikalisch inszenieren. Komponiert hat diese Wucht von einer Musik Barbara Morgenstern, und es ist faszinierend, wie die Klänge mit dem Text interagieren, seine Aussagen verstärken und betonen, und wie innere Bilder entstehen.

Wellen, Sand und Sonnenschirm

Doch auch die Bilder auf der Bühne verändern sich immer wieder. Während die Musiker:innen zu Beginn des Stücks wie Flugzeugreisende in einer Schlange warten, bevor sie zu ihren Instrumenten greifen – Saxofon, Geige, Klarinette, Kontrabass, Xylofon und Schlagzeug –, verändert sich für jedes der acht Jahre das Szenarium. Bald schon wird Sand hingeschaufelt, und wir befinden uns am Strand: Auf die Leinwand am hinteren Bühnenrand werden Wellen projiziert, das Wasser scheint über die Bühne zu fliessen. Die Musiker:innen liegen in Badeanzügen und kurzen Hosen im Sand, neben ihnen Kühlbox und Sonnenschirm. Ein Wrackteil wird auf die Bühne heruntergelassen – das erste Trümmerteil, das siebzehn Monate nach dem Absturz von MH370 auftaucht. Und immer wieder spielt das kleine Orchester auf, gegen Ende mit zusätzlicher Unterstützung: Auf beide Leinwände werden weitere Musiker:innen projiziert, die den Sound kräftig verstärken.

Sie habe sich eigentlich mit der Idee des Verschwindens auseinandersetzen wollen, sagte Haug in einem Interview, um ihren Vater sei es zuerst gar nicht gegangen. Doch durch die Beschäftigung mit den Theorien der Psychologin Pauline Boss, die sich mit «uneindeutigen Verlusten» auseinandersetzt, habe sich das geändert: Boss betreut einerseits Menschen, die Familienangehörige durch einen Flugzeugabsturz oder im Krieg verloren haben, andererseits auch Angehörige von Demenzerkrankten. Da habe sie plötzlich begriffen, wie sehr diese beiden Themen zusammenhingen, so Haug, und so hat sie ihren Vater eingebaut.

Diese Verknüpfung ist ein Glücksfall. Denn Haug gelingt es dadurch, die persönliche Geschichte in einen grösseren Kontext zu stellen. Und nie ist «All Right. Good Night» auch nur ansatzweise eine persönliche Nabelschau, sondern ein sehr trauriges, aber auch tröstendes Werk über die Endlichkeit des Lebens und den Umgang der Zurückgebliebenen mit dem Verlust ihrer Liebsten.

Buchcover «All Right. Good Night»
Helgard Haug: «All Right. Good Night». Roman. Rowohlt Verlag. Hamburg 2023. 160 Seiten. 34 Franken.