Heisser Herbst in Serbien: Protest als kollektive Psychotherapie

Nr. 36 –

Entgegen allen Voraussagen hören die Demonstrationen in Serbien nicht auf. Nun könnten sie eine neue Dynamik entwickeln – und die Pläne des mächtigen Präsidenten durchkreuzen.

Eigentlich hatte Aleksandar Vučić einen Plan. Am 28. Juni, dem historisch wichtigen Feiertag Vidovdan, wollte der serbische Präsident sein neues Projekt vorstellen: eine Volksbewegung für alle Serbinnen und Serben, an deren Spitze er selbst steht. Im Mai trat er dafür als Vorsitzender seiner Serbischen Fortschrittspartei (SNS) zurück: «Diese Bewegung wird über die SNS hinausgehen, und ich würde gerne diejenigen Menschen einbeziehen, die nicht in der SNS sind», hatte er in einem Fernsehinterview angekündigt.

Wie seine Bewegung aussehen soll, ob sie als Bürger:innenliste oder eher als politisches Sammelbecken registriert wird, steht noch in den Sternen. Welches Ziel Vučić damit verfolgt, liegt aber auf der Hand: «Er will ein Rebranding, weil seine Partei an Strahlkraft und Popularität verloren hat», sagt der serbische Politikwissenschaftler Igor Novaković.

Vučić, der seit zehn Jahren die Politik Serbiens bestimmt und seit 2017 Präsident ist, will sich so auf die vorgezogenen Wahlen vorbereiten. Diese sollen voraussichtlich im Frühjahr 2024 stattfinden, aber ausser Vučić weiss das niemand so genau.

Jeden Tag eine Rede

Serbien – wie auch Ungarn – ist heute das, was man ein hybrides Regime nennt. Beide Länder sind keine Demokratien mehr, aber Diktaturen sind sie auch nicht. Die Wahlen sind frei, aber nicht fair. Die Freiräume für Kritiker:innen sind minimal, aber gerade gross genug, um darauf hinweisen zu können, dass sie existieren. Kurzum: Es besteht die Möglichkeit, die starken Männer wieder abzuwählen – theoretisch.

In der Praxis verfügt Vučić wie kein anderer Politiker auf dem Balkan über ein perfekt auf ihn zugeschnittenes Medienmonopol. Schon während der Jugoslawienkriege war die öffentliche Meinung sein Spezialgebiet. Vučić war damals noch Propagandaminister von Slobodan Milošević. Zur Erinnerung: Der Machthaber wurde 2001 an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert und unter anderem wegen Völkermord angeklagt. 2006 starb er in seiner Zelle, bevor er verurteilt werden konnte.

Vučić, sein politischer Ziehsohn, hat schon früh gelernt, wie man die öffentliche Meinung formt. Er beherrscht die Technik auch in Friedenszeiten. Die serbische Denkfabrik CRTA hat erhoben, wie oft sich der Präsident in den vergangenen zwölf Monaten mit einer Rede an die Nation gewandt hat. Das Ergebnis: jeden Tag.

Gegen diese Dauermonologe kommt niemand an: weder die Opposition noch Vučićs Partei, die SNS. Bei der letzten Präsidentschaftswahl im April 2022 erhielt Vučić knapp 60 Prozent der Stimmen – deutlich mehr als die SNS, die nur 43 Prozent erhielt. «Sie hat Stimmen an die erstarkende Rechte und an Vučićs Koalitionspartner, die Sozialistische Partei von Aussenminister Ivica Dačić, verloren», sagt der Politikwissenschaftler Igor Novaković.

Vučić hat erkannt, dass er beliebter ist als seine eigene Partei. Mit seiner neuen Bewegung will er deshalb wie der Phönix aus der Asche des alten Establishments emporsteigen. Der pompös angekündigte «Kick-off» der Volksbewegung am 28. Juni wurde schliesslich aber abgeblasen und auf den Herbst verschoben. Offiziell ist nicht bekannt, warum, aber der Politologe Novaković hat eine Vermutung: Die Proteste haben die Pläne durchkreuzt.

Zwei Blutbäder

Serbien erlebt die grössten Proteste seit dem Sturz von Slobodan Milošević im Oktober 2000. Seit Mai gehen immer wieder Hunderttausende auf die Strasse. Der Auslöser: zwei Blutbäder innert 24 Stunden. Am Morgen des 3. Mai war ein 13-Jähriger mit zwei Waffen seines Vaters an einer Schule in Belgrad Amok gelaufen. Sieben Mädchen und ein Junge, alle zwischen 12 und 14 Jahre alt, starben. Und schon am Tag darauf folgte der nächste Amoklauf. Ein 21-Jähriger, der Sohn eines Militärs, schoss in einem Dorf südlich von Belgrad auf Passant:innen.

Diese blutigen Ereignisse haben Serbien verändert. Die Regierung hat die Ausgabe neuer Waffenscheine für zwei Jahre ausgesetzt und eine landesweite Entwaffnungskampagne eingeleitet, bei der Menschen ihre illegalen Bestände straffrei an die Polizei abgeben können. Aber damit gibt sich die Protestbewegung nicht zufrieden. Sie spricht von einer generellen «Kultur der Gewalt», mit der Politiker:innen und Medien den öffentlichen Diskurs vergifteten, Feindbilder schürten oder ethnische Konflikte befeuerten.

Der serbische Verteidigungsminister Miloš Vučević ist ein gutes Beispiel für diese Kultur der Gewalt. Ende August drohte er all jenen Nachbarländern, die die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt haben: «Ihr habt einen Fehler gemacht, und das wird sich rächen, so wie in der Ukraine.»

Der mehrheitlich albanisch besiedelte Kosovo war zur Zeit Jugoslawiens eine autonome Provinz Serbiens gewesen und hatte sich 2008 einseitig für unabhängig erklärt. Fast 25 Jahre nach dem Krieg bemüht sich die EU im Rahmen eines Dialogs um eine Lösung. Der Kosovo ist Aleksandar Vučićs wichtigstes Faustpfand.

Einerseits präsentiert er sich der internationalen Gemeinschaft als kompromissbereiter Verhandler, ja mehr noch: als der einzige Mann, mit dem die Kosovokrise zu lösen sei. Andererseits heizt seine Regierung dem serbischen Volk regelmässig mit nationalistischen Tönen ein und liebäugelt mit dem traditionellen Alliierten Russland. Die regierungsnahen Medien beschwören Tag für Tag einen Krieg mit den Kosovo-Albaner:innen herauf.

Wie eine «kollektive Psychotherapie»

«Diese Gewalt zersetzt uns als Gesellschaft», sagt Aleksandra Tomanić, eine laute Stimme der Zivilbevölkerung, die von Anfang an bei den Protesten dabei war. Entgegen den Vorhersagen von Beobachter:innen und obwohl es zeitweise über vierzig Grad heiss gewesen sei, hätten diese den Sommer überstanden, sagt sie. «Beileibe nicht nur in Belgrad, sondern auch in kleinen Städten auf dem Land wurde demonstriert.» Und jetzt im September erwarte sie ein weiteres Erstarken der Protestbewegung, sagt Tomanić.

In Belgrad gab es in den letzten Jahren allerdings immer wieder Demonstrationen, zuletzt etwa gegen die Inbetriebnahme einer Lithiummine im serbischen Jadartal. Sie klangen jeweils bald wieder ab. Inwiefern unterscheiden sich die jetzigen Proteste von anderen vor ihnen?

«Sie sind anders, weil sie generationenübergreifend sind», antwortet Tomanić. «Es beteiligen sich Schüler:innen, Familien mit ihren Kindern und Hunden, alte Menschen im Rollstuhl», zählt sie auf. In ihren Augen sind die Proteste ein Befreiungsschlag: «Sie sind wie eine kollektive Psychotherapie.» In Serbien seien Dinge normal geworden, die nicht normal sein sollten. Aber: «Es gibt keinen medialen Diskurs und auch keinen Rechtsstaat mehr», sagt die Aktivistin. Dem Protest bleibe deshalb nur die Strasse.

Aleksandra Tomanić, die schon 1996 gegen Slobodan Milošević demonstrierte, macht sich aber keine Illusionen. Kurzfristig werden die Proteste die Regierung nicht stürzen, dafür ist Vučić zu mächtig und die Opposition zu zersplittert. Sicher ist aber: Sie haben den Präsidenten irritiert und sehr nervös gemacht. Aleksandar Vučić kann sich nicht mehr sicher sein, dass seine gängigen Machtinstrumente noch ausreichen.