Erwachet!: Das Heulen der Wölfe

Nr. 36 –

Michelle Steinbeck über die Macht einer Märchenfigur

Der Wolf ist überall: In der Schweiz soll er entgegen dem «Volkswillen» schnell – pünktlich zu den Wahlen der eidgenössischen Schafhirten – massakriert werden; in Italien vergewaltigt er Mädchen und weinselige Frauen.

«Wenn du es vermeidest, dich zu betrinken, kannst du vielleicht auch vermeiden, auf den Wolf zu treffen.» So riet kürzlich ein italienischer Fernsehmoderator, Lebenspartner der Premierministerin, einer Neunzehnjährigen, die in Palermo eine Gruppenvergewaltigung überlebt hat. Die 88-jährige Sängerin Ornella Vanoni postete daraufhin ein Video, in dem sie sphinxhaft lächelnd widerspricht: «Der Wolf ist nicht im Glas. Er ist ausserhalb des Glases.» Etwas konkreter führt Influencerin Chiara Ferragni den Gedanken weiter: «Es ist genau das Pflegen dieser ‹­rape culture›, das die ‹Wölfe› gedeihen und stark werden lässt.»

Die Aussage des Moderators findet aber auch erschreckend viel Zuspruch: Unter zustimmenden «Tages-Anzeiger Online»-Kommentaren findet sich etwa der Vergleich des zitierten Wolfsspruchs mit dem guten Rat, auf einer Bergwanderung keine Flipflops anzuziehen.

Gegen solch krude Behauptungen einer Kausalität wehrt sich Journalist Lorenzo Tosa: «Die Vorstellung, dass Männer ‹Wölfe› seien, also Raubtiere, vor denen Frauen sich schützen müssen, ist nicht nur erniedrigend für alles Weibliche, das als wandelndes Stück Fleisch objektiviert wird, sondern auch beleidigend für Männer, die auf eine angebliche Unfähigkeit reduziert werden, ihr Glied in der Hose zu behalten, sobald sie eine Schwäche bemerken.»

Aber woher kommen überhaupt diese Wölfe? Sie erscheinen schon in der frühsten Kindheit: Während im traditionell schweizerischen Schlaflied der Vater die Schafe hütet, hat im italienischen «Ninna Nanna» der Wolf das Lamm schon gefressen. Und die Mutter bereitet ihr Kind auf eine gefährliche Zukunft vor, indem sie singt: «Was machst du, wenn der Wolf kommt? Was, wenn er dich zwischen seinen Zähnen hat?»

Wo die einen den Wolf als Metapher für (natürliche) männliche Gewalt benutzen, sehen die anderen ihn als Ausdruck von «Natur», die der Jäger bezwingen muss, um Herr der Lage zu bleiben. Opfer dieses Weltbilds wurde gerade auch eine Bärenmutter, die friedlich mit zwei Jungen durch ein abruzzisches Bergdorf zottelte, bis sie unvermittelt von einem Anwohner erschossen wurde. Das männliche Begehren, Natur zu unterwerfen, zeigt sich im Vorhaben von Bundesrat Albert Rösti, den Wolfsbestand in der Schweiz um siebzig Prozent zu reduzieren – aber auch im Vorschlag des italienischen Expremiers Matteo Salvini, solche «Bestien» (Vergewaltiger) chemisch zu kastrieren. Als wären es rein hormonelle Ungleichgewichte, die Männer zu Tätern machen, und nicht etwa die Gesellschaft. Dass in dieser nämlich auch eine Kultur vorherrscht, die die «weibliche Natur» zu kontrollieren sucht, worauf etwa die Aussage des erwähnten Moderators abzielt, wird mit einer derart technokratisch anmutenden Lösung verleugnet.

Das Narrativ vom bösen Wolf verschleiert in beiden Fällen, worum es eigentlich geht: Stimmenfang und patriarchale Gewalt. Es verhindert auch das Hinterfragen der eigenen ausbeuterischen Kultur: Statt Verantwortung zu übernehmen und Machtverhältnisse zu ändern, projizieren jene, die von ihnen profitieren, lieber weiter die Gefahr auf eine Märchenfigur.

Michelle Steinbeck ist Autorin.